Mit der Schneckenpost setzte sich der Briefroman durch.
Mit dem Photokopierer konnte jeder Nonkonformist zum Verleger werden.
Mit dem Microbloggingdienst kam die 140-Zeichen-Twitteratur.
Literarisch befasst sich KUNO seit 1989 mit der Unerforschlichkeit des Subjekts, mit der Abgründigkeit des Ichs, mit der Nichtfestlegbarkeit des Individuums. Das Lesen macht uns seither klüger und dümmer zugleich. Je mehr wir lesen, desto mehr Fragen stellen wir uns in der Redaktion. Und je intensiver wir lesen und die nonkonformistische Literatur in diesem Inlinemagazin dokumentieren, desto deutlicher wird uns, dass es darum nicht geht, sondern um den Zugewinn an Leben, den wir uns durch das Lesen, das Reflektieren und das Erzählen von Geschichten verschaffen. Die Fiktion ist im Zeitalter des www genau der Ort, wo Dinge – sowohl so als auch – nicht so sind wie sie scheinen, wo Welten existieren, an die wir fest glauben können, während wir zugleich wissen, daß sie nicht existieren, möglicherweise nicht existiert haben und wahrscheinlich niemals existieren werden. Und diese schöne Komplikation war nie bedeutsamer als in unserem Zeitalter der übermäßigen Vereinfachung.
Verlagsblogs sind das neue Ding: Nahe an den Autoren und den Käufer im Blick. Die ambivalente Haltung gegenüber den neuen Medien ist dabei allerdings unüberlesbar.
Martin Ebel
„Alles hat entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden. Was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent erstattet, das hat eine Würde“, schreibt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Insofern hat auch ein Buch einen Preis. Der spätmoderne Konsumkapitalismus hat die Rotationsmaschine angeworfen und sogenannte „Taschenbücher“ zu Verbrauchsgütern gemacht hat und dadurch den Namen einer tödlichen Krankheit – consumption ist die englische Bezeichnung für Schwindsucht – zur Beschreibung unserer Lebensform. Künstler, Intellektuelle und Nonkonformisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie prekär leben können, aber dabei nicht von ihrer Arbeit entfremdet sind. Die erzählte Geschichte der nonkonformistischen Literatur selbst aber – sie hat eine Würde.
In diesem Jahr erschien die Textsammlung: Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin. Die Sammlung enthält Palimpseste einiger Werke der Weltliteratur in netzaffiner Jugendsprache. Dies beschränkt auf 140 Zeichen. Twitteratur ist eine Poesie, die man von den japanischen Haiku kennt, sie scheint auf besondere Weise verfügbar und dienstbar zu sein. Bestand die Modernität dieser Mikrogramme bisher in ihrer Operativität, so entspricht diese literarische Form im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Denkgenauigkeit der Spätmoderne. Inwieweit diese neue Literaturgattung die Nonkonformistische Literatur fortführen kann, wird sich in den kommenden Jahren erst noch erweisen.
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Twitteratur, Genese einer Literaturgattung. Erweiterte Taschenbuchausgabe mit der Dokumentation des Hungertuchpreises. Herausgegeben von Matthias Hagedorn, Edition Das Labor (Überarbeitete Ausgabe 2019).
Weiterführend →
KUNO hat unterschiedliche Autoren zu einen Exkurs zur Twitteratur gebeten, und glücklicherweise sind die Antworten so vielfältig, wie die Arbeiten dieser Autoren. Über den Vorläufer der Twitteratur berichtet Maximilian Zander. Anja Wurm, sizzierte, warum Netzliteratur Ohne Unterlaß geschieht. Ulrich Bergmann sieht das Thema in seinem Einsprengsel ad gloriam tvvitteraturae! eher kulturpessimistisch. Für Karl Feldkamp ist Twitteratur: Kurz knackig einfühlsam. Jesko Hagen denkt über das fragile Gleichgewicht von Kunst und Politik nach. Sebastian Schmidt erkundet das Sein in der Timeline. Gleichfalls zur Kurzform Lyrik haben wir Dr. Tamara Kudryavtseva vom Gorki-Institut für Weltliteratur der Russischen Akademie der Wissenschaften um einen Beitrag gebeten. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Und sie machen erste Vorschläge, wie es zu kartographieren wäre. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Maximilian Zander berichtet über eine Kleinform der spanischen Literatur. Holger Benkel begibt sich mit seinen Aphorismen Gedanken, die um Ecken biegen auf ein anderes Versuchsfeld. Die Variation von Haimo Hieronymus Twitteratur ist die Kurznovelle. Peter Meilchen beschreibt in der Reihe Leben in Möglichkeitsfloskeln die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren. Sophie Reyer bezieht sich auf die Tradition der Lyrik und vollzieht den Weg vom Zierpen zum Zwitschern nach. Gemeinsam mit Sophie Reyer präsentierte A.J. Weigoni auf KUNO das Projekt Wortspielhalle, welches mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Mit dem fulminanten Essay Romanvernichtungsdreck! #errorcreatingtweet setzte Denis Ulrich den vorläufigen Schlußpunkt.