Mit den Vignetten definiert A.J. Weigoni eine Literaturgattung neu. Er praktiziert damit mehr als Schreiben, denn diese Novelle ist ein Sich–Einschreiben in die Welt, demzufolge eine Schreibe, die spricht und eine Spreche, die schreibt. Dieser Romancier verdichtet die sinnliche Wahrnehmung seiner Figuren. Denkprozesse kommen bei den Hauptfiguren Nataly und Max in Gang, die weit in die Zeit zurückreichen, Landschaften, die sich Vignette für Vignette füllen; erst kommen die Gegenstände, dann die Farben, die Jahreszeit… und schließlich setzt sich aus den Einzelteilen eine konkrete Geschichte zusammen.
Weigoni stattet die Figur des Max mit selbstgewisser Bonhommie aus. Für diese Hauptfigur ist Reflexivität immer Katastrophenanalyse, die in der Erfahrung gründet, dass das Schockerlebnis zur Norm geworden ist. Die Begegnung von Nataly und Max gerät zur Charakterstudie zweier Menschen, die darüber verzweifeln, dass sie den Sinn ihres Lebens vielleicht noch nicht ganz vergessen haben. Inventur des Lebens, das Leben als Inventur, darum dreht es sich in dieser Novelle. Für Weigoni ist das Konzept der Leere, die Spannung zwischen Form– und Formlosigkeit, Materiellem und Immateriellem von existientieller Bedeutung. Er belauscht das Sprechen und setzt damit den Spuren der Schrift nach. Seine Charaktere sind einsilbige Menschen, zurückhaltende Betrachter, mit einer unerschöpflichen Gier nach den mäandernden Läuften des Lebens. Anwesenheit und Abwesenheit, Erscheinen und Verschwinden, das Unbegreifbare und Unfassbare bestimmen die Lesart der »Vignetten«, denn das Objekt der Begierde zeigt sich nur bruchstückhaft. Nataly und Max empfinden sich als Fremdkörper im eigenen Leben. Je leerer ihre Gesten scheinen, umso schöner wirken sie. So demonstriert Nataly ihre Lässigkeit mit unglaublicher Eleganz.
In den Vignetten lässt Weigoni die Grenzerfahrungen der Einsamkeit und des Todes anklingen, wo er sie zugleich als Fahrt an die terrestrischen Grenzen des Bekannten gestaltet und im Innern einer Pyramide ihren Kipppunkt findet. Aufgewühlte Innenwelt und elementare Außenwelt fallen hier zusammen. Beiläufig liefert der Romancier eine Hommage an die bildenden Künstler Jürgen Diehl und Peter Meilchen und spielt auf den Angelus Novus an, den Walter Benjamin zu seiner Definition zum „Engel der Geschichte“ inspirierte. Gemessen an dem Klee–Diktum, das die Kunst nicht das Sichtbare zeigen, sondern sichtbar machen muss, sind die grundverschiedenen Künstler so etwas wie Brüder im Geiste. Es geht nicht nur um die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit der Literatur, sondern – bei aller Lebenslust, die dieser Romancier ausstrahlt – auch immer wieder um den Tod – und um das Nichts, die Leere und die Entmaterialisierung. Das liminale Reich zwischen Tod und Leben ist das heimliche Kernthema dieser Novelle. Das Abenteuer von Nataly und Max entspringt der Imagination und kann Literatur werden. Hier geschieht ein Eingedenken im Sinne Benjamins, das gerade das immer schon Verlorene noch zu retten versucht.
Mit dieser Novelle liefert Weigoni ein streng durchgearbeitetes Zeitbild zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das Bemerkenswerte an diesen »Vignetten« ist der hohe Abstraktionsgrad in der scheinbaren Opulenz, einerseits entwirft dieser Romancier ein großes Tableau wie man es von einem Roman erwartet, andererseits wird die Perspektive enger und enger, bis nur noch das Wichtigste in den Sucher passt. In der numerischen Abfolge fügen sich unter dem Kapitel „Mäander“ 12 römische und unter dem Kapitel „Uräus“ zwölf arabische Kapitel zu einer Novelle. Diese Novelle hält sich an die klassischen Charakteristika ihrer Gattung und ist in der Summe der einzelnen Vignetten eine Erzählung mittlerer Länge, die nach einer zufälligen Begegnung der Hauptfiguren Nataly und Max den Konflikt zwischen Ordnung und Chaos neu ausbalanciert.
Gegen die verschiedenen Denkmethoden der Deduktion oder Induktion, der Logik oder Empirie, bietet er seine eigene auf: Intuition. Damit ist nicht die himmlische Eingebung, sondern ein freies, poetisches Denken gemeint. Als Intuitiver beugt sich Weigoni weder den Gesetzen der philosophischen Tradition noch denen der Anschauung, seine Intuition schließt ein Misstrauen gegen alles Offensichtliche ein.
„Immer bleibt etwas übrig. Ein Rest, der nicht aufgeht. Dann liegen die Bilder herum und warten auf Geschichte“, vermeint man einen Nachhall von Walter Benjamins Geschichtsphilosophie auf eine versunkene Epoche zu hören. Um zu begreifen, wo ein literarisches Werk spielt, muss der Leser den Handlungsort identifizieren. Weigoni besitzt eine ausgeprägte Sensibilität für verwundete und bedrohte Landschaften, seien es körperliche oder seelische, mentale oder geographische Landschaften. In diesen »Vignetten« gestaltet der Romancier eigene Räume und literarische Traumpfade, deren Plastizität nicht davon abhängen, ob es sie so wirklich gibt. Wo ein Bezug zum Rhein oder zum Nil möglich ist, stellen die Leser in diesen Vertiefungsraum in der Regel selbst her. Das Verhältnis von Novelle und Wirklichkeit beschäftigt die Leser dieser »Vignetten« gerade deshalb, weil sie die Tiefenschichten der Gegenwart durch diese Art von Literaturgeografie mittels Poesie reale Räume diesseits des Rheins und jenseits des Nils neu erfahren können.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover.
Ein Hörprobe findet sich hier. – Die Aufnahme ist in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.