Nataly und Max haben die Autonomie erlangt, sich über Erwartungshaltungen hinwegzusetzen; sie haben keine Berufe, sondern Jobs, verfolgen kein Lebensziel, sondern ein Lebensgefühl. Die Herzbestimmten verstehen sich gut, weil sie sich gegenseitig durchschauen; fühlen sich zueinander hingezogen, weil sie sich voreinander nicht verstellen müssen; sind sich ebenbürtig – und ein bisschen rächen sie sich an jenen, die sie mit einer Grosszügigkeit behandeln, die für beide auch etwas Herabsetzendes hat. Ihr Horizont ist die Zukunft, obwohl sie häufig aus dem Vergangenen schöpfen, sie entscheiden sich für einen Wunschtraum, weil alle realistischen Alternativen unerträglich wären, haben die Präsentation der Reihe im Glaskasten der Galerie angenommen, um mit dem verdienten Geld den festen Ort zu fliehen, im Süden überwintern zu können; und zu erforschen, wie Pflanzen kleiden, ernähren, bei Krankheiten helfen, wie sie inspirieren.
Eingeweideschau. Sie dreht sich zu ihm um. Will ihm die Kaffeetasse reichen. Er wirkt abwesend. Mag sein, dass Max die Entität schon seit Minuten mit einem Horror– und Höllenblick anstarrt. Max ist Melancholiker und unerschütterbar in seiner Beharrlichkeit, der Trauer eine Form zu geben, in der Destruktion und Perversion einen gleichberechtigten Platz einnehmen. Nataly vollzieht nach, was ihn an dem Auswechselgesicht interessiert: Die Tatsache, dass es sich um eine Ruine handelt, Chemikalien haben es zu einer Maske geformt. Die Augen strahlen keine Wärme aus. Sie wirken starr und nach innen gekehrt. Ins Nichts.
Spiegelungen. Vom HiFi–Geschäft gegenüber ist eine Kamera auf sie gerichtet. Sie überträgt ihr Bild auf einen Schirm. Zwischen den Rasterpunkten scheint das Make–up aufzuplatzen, ähnlich dem Verputz eines einsturzgefährdeten Hauses. Nataly glaubt in seinem umflorten Blick eine meditative Versunkenheit zu erkennen. Sie versucht nicht, Max zu verstehen, sie versucht ihm Halt zu geben, so wie er ihr beim Wechseln des Verbands hilft und das Verheilen der Wunden begleitet. Über ihrer Interaktion liegt die unmögliche Hoffnung, die Last der finalen Vergeblichkeit ins Uferlose hinauszögern zu können…
Zerfallsromantik. Natalys röntgenhafter Scharfblick zeigt einen Stadtkern, der aussieht, als hätte ihn der Ausstatter einer Miniatur–Eisenbahn erdacht: gepflegt gealterte Fachwerkhäuser, blitzsaubere Trottoirs, verwinkelte Gassen und ein malerischer Marktplatz. Diese Agora wird zum Guckloch der Stadtgeschichte. Über Pflastersteine stolzieren Paare und Passanten, gelegentlich chorisch vereint, dann wieder zu künstlichen Posen vereinzelt. Welt wird als Bühne begriffen. Die Menschen ahmen Entertainment–Muster nach; gleichzeitig gibt es Elemente des realen Lebens, die zu Entertainment verarbeitet werden. Auch die somnambulste Bemerkung wird von ihnen ins Handfeste und Wirklichkeitstaugliche gewendet. In ihrem Selbstentwurf wollen sie ihr Leben als zusammenhängende Erzählung erfahren, und ihre Existenz als Drehbuchautoren erfinden; sie stellen so ihren Alltag zunehmend als eigenen Film zusammen. Diese Menschen laufen geschäftig von hier nach dort, jeder in die richtige Richtung; nur wenige torkeln aus der Reihe. Fehlende Übergänge verweisen auf das Ungesagte und Denkbare. Der Minutenzeiger der Normalzeituhr besiegelt das Ende der Mittagspause. Nataly berührt Max mit sachtem Fingerzeig an der Schulter und fordert ihn auf:
»Komm, wir müssen das Schaufenster der Galerie noch fertig schmücken.«
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.