Amplikationsfetischismus

 

Mildes Ockergrün moduliert die Aufzeichnungsanstalt für musikalische Momente, das durch ein verglastes Fensterband von oben beleuchtet wird. Dadurch entsteht ein introvertierter Meditationsort. Der Maschinist legt den Hebel von offnach on. Das zitternde Peakmeter leuchtet im Spiegel seiner grünblauen Augen auf. Zonker betätigt den kleinen Hebel am Turntable, der im Stahlregal ein Stockwerk höher steht. Der runde Teller beginnt sich langsam und geräuschlos zu drehen. Die Welt ist eine Scheibe, weil sich alles im Kreis dreht. Eine Nadel in der Rille. Die Nadel tastet ab. Seine besten Tracks sind asymmetrisch: Verschiedene Klangreize bewegen sich auf Parallelspuren, gerne in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Vielen Tracks ist es egal, ob man sie auf 33 oder 45 abspielt, zum persönlichen Feintuning benutzt er einen Plattenspieler mit Pitchcontrol: plus minus acht. An Musik interessiert ihn vor allem, wie man sie aus dem Takt bringt, wie man mit Sounds die Zeit manipulieren kann.

Zonker setzt den dynamischen Kopfhörer auf, um sich abzuschrmen. Dreht an den Equalizern und weiteren Einstellungsmöglichkeiten zur Manipulation. Mit einem zärtlichen Griff entkleidet er das schwarze Vinyl. Stellt die Kopulation zum Teller her. Der Musikethnologe fixiert das VU–Meter verbindet Dancehall mit hartem Electronic–Sound. Pegelt nach. Sucht aufmerksam nach der bestmöglichen Aussteuerung. Betätigt den Lift, um sich dem Aufnahmegerät widmen zu können. Der Arbeitsablauf, den er fast zur Perfektion gebracht hat, verläuft auch diesmal kongruent. Ein maliziöses Lächeln huscht durch seine Gesichtsmuskeln.

N@sty B. und Zonker haben ein Gespür für den Zeitgeist entwickelt. Sie sind zur Stelle, als die Anonymität des DJs als Sackgasse und das Glücksversprechen des Dubtechno als leere Phrase entlarvt wird. Als Pop und Tanzboden eine Liaison eingehen, sind Gesichter zur elektronischen Musik gefragt und Inhalte. Sie arbeiten mit Elektronikern aus Südamerika, russischen R’n’B–Musikern und laotischer Hiphopern zusammen, der globalisierte Zustand der Popkultur birgt für sie die Chance, sich von der überlebten Idee des Anglozentrismus zu lösen.

Der Datendandy arbeitet an der einsamen Empfindsamkeit des Computertüftlers. Zonker deckt das Bedürfnis nach unabhängiger Musik ab; seine Komposition für N@sty B. gibt der Aggressivität und dem Hass, die in der Gesellschaft herrschen, Ausdruck. Er schreibt eine schockierend realistische Musik, die das Drama der Existenz auf der Bühne in obszöne Klangbilder von grellster Konkretheit übersetzt. Es geht ihm darum, etwas zu produzieren, das lebt. Er setzt auf Flow, auf offene, narrative Strukturen, eine smarte Mischung von geisterhaften Popmelodien, komplexen Rhythmen und faszinierenden Klangexperimenten.

Zonker begreift Musik als Einheit von Text und Klang und addiert dazu ein paar obskure Störgeräusche, um dem Werk eine gewisse Spookyness zu verleihen. Und er betont die politisch Bedeutung dieser Einheit für die Humanisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Mit dem Bewusstsein über das Unbehagen in der Kultur ist das Behagen in der Unkultur unvereinbar. Dieses Unbehagen bestimmte die Texte von N@sty B. in der Phase ihres Entstehens. Ihre Kritik zielt auf Fragen der Machtverteilung in zwischenmenschlichen Verhältnissen, der Entfremdung und der Selbstverwirklichung, sie reflektieren den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Popmoderne, die Teleologiekritik aufzugeben.

Die ersten Entwürfe britzeln vor sich hin. Der Sound schöpft die Räume aus, kleistert sie aber nie zu. Die angekanteten Gitarren gehen vortrefflich zusammen mit dem zweistimmigen Chorgesang. Zonker konterkariert kalten Electrofunk mit den melancholischen Streicher–Arrangements, holt sich Anleihen beim dunkelsten europäischen Industrial mit einer gepflegten Jazz–Sensibility, und peppt den Retro–Futurismus mit dem Wissen um die Vergangenheit auf. Die Tracks fliegen als Daten zwischen ihren Rechnern hin und her.

N@sty B. streut eine Moritat voller Schwermut ein. Generiert die Hochspannung in ihrer Musik aus dem Kontrast zwischen unterkühlten Klanglandschaften und dem Feuer ihrer wandelbaren Stimme. In den Songs arbeitet sie eine neoliberale Kriegsidentität heraus, militärische Codes durchdringen die Subjektivität der Einzelnen. Die Gesellschaft gilt als Kampfzusammenhang und das Individuum als konkurrenzbereites Subjekt, das sich in einem lebenslangen Wettbewerb zu behaupten hat, sich geistig und körperlich permanent fit machen will. Utopie verdichtet sich im Ausprobieren von Möglichkeiten, die lebhaft zwischen subversiver Beweglichkeit und neoliberaler Flexibilität changieren. Musik ist ihre Schnittstelle nach aussen, mit der sie mit der Welt in Verbindung tritt. Und ihre Musik wird zu einem Filter, um die Welt zu verstehen. Diese souveräne Aufgabe von kreativer Kontrolle rückt N@sty B. erst recht wieder ins Zentrum ihrer Musik. Alles dreht sich um ihre Stimme, alles kreist um diese vakante Stelle mitten auf dem Dancefloor.

„Ist das Datenmüll, den man im Internet einfach mitnimmt, oder tatsächliches Interesse?“, stellt Zonker seine Arbeit in Frage. Beim Pluralismus der Stile und Szenen findet jeder seine Lieblingsmusik. Trends und Hits werden nicht mehr von grossen Konzernen gepusht, sondern entstehen innerhalb der Fangemeinden durch Propaganda per eMail. Nachdem N@sty B. nach ihrem Debütalbum wegen mangelnder Kommerzialität fallen gelassen wurde, gründete sie mit Zonker ein Label, das ihre Alben über das Netz vertreibt. Sie lassen die neuen Songs in einem Blog diskutieren. Das alte Musiksystem mit der Macht der grossen Schallplattenfirmen, den Mainstream–Charts und Formatradios, die wegen des Quotendrucks den Hörgewohnheiten der Mehrheit folgen, wirkt demgegenüber wie eine veraltete Konsensmaschine: Sie lässt nicht nur viele Musiker und Musikerinnen durchs Raster fallen, sondern auch viele Hörer und Hörerinnen. Von ihren Apologeten wird der Netsound als Demokratisierung und Sieg der Vielfalt gegen den Einheitsterror gefeiert, doch die Erzählung von der kommerzfreien Grassroot–Bewegung ist so alt und trügerisch wie der Pop selbst.

»Wir brauchen ’n Clip. Was hältst du von Doc Hecl als Duett für The Beauty & the Beat«, schlägt Zonker den vielseitig gescheiterten Blueser vor. Die Essenz seines Blues ist die Fähigkeit, emotional am Abgrund zu stehen und von dort aus mit Nonchalance von der Liebe zu singen. Er erzählt vom Leid, das der Liebe immer schon mitgegeben ist, setzt aber zugleich Energien der Erlösung frei. Zorn, Trauer und Hoffnung, dieser Dreiklang ist tonangebend in seinem neuen Leben.

»Doc Hecl ist ein fragiler Berserker, dem die Welt zu eng, das Herz zu gross, die Leidenschaft zu schwer und der Geist zu schwach gerät und der sich offenen Auges, aber mit beschränktem Wissen in die Schreddermaschine des Schicksals fallen lässt«, textet N@sty B. voller Bewunderung. Nachdem er von der Industrie erbarmunglos aussortiert worden ist, wird es Zeit für ein Comeback.

Zonker feilt insektenforschergleich an einem Stück, das aus Facettenaugen in die Welt hinausschaut. In einer Zeit, in der Pop nurmehr als emotionaler Klingelton interessiert, machen N@sty B. und Zonker die Zweifel musikalisch hörbar. Mit Pop assoziieren sie Popcorn, deshalb lassen sie es ordentlich krachen, blasen Lärm durch den Verzerrer und machen ihn funky. Bei ihren neuen Songs klingt die düstere Grundierung aufregend, parodistisch und post–apokalyptisch. Allmählich schälen sich melodische Pop–Perlen voller Melancholie heraus.

N@sty B.s Stimme stemmt sich wuchtig heraus. Scharf verbindet sie sich mit einem Bläserriff aus der Steinzeit des Soul und den angezerrten Glockentönen eines elektrischen Wurlitzerklaviers. Sie wirkt dabei nicht kokett, sondern aufrichtig euphorisch, lässt ihre Stimme mal hinter den Beat fallen und phrasiert sie auf den Punkt, verschleift die Töne oder löst sie in ein Stakkato auf. Im schnellen Wechsel der Perspektiven und Rollen hintertreibt N@sty B. die Identifikation, die dem Publikum den schnellen Zugang zu einem Song erleichtert. Stattdessen bietet sie ihm eine Beobachterposition, von der aus es einen ganzen Kosmos an Emotionen überschauen kann. Ich ist eine andere.

Zonker setzt seine Plattensammlung im Rechner neu zusammen und zimmert raue Tanzbretter daraus. Am Powerbook mixt er zum Lauf seiner Basslinien Samples aus den Begleitsongs seines Lebens, bis daraus eigene Lieder entstehen, zu denen er seine Genrebilder entwickelt. Er mischt die Klangfarben der Musikgeschichte auf seiner eigenen Palette, verwandelt den Pointillismus aus Tönen, mit dem er Klänge malt, in Action–Painting. Jeden Fund erklärt er zum Objekt der Kunst. Jedes seiner Stücke basiert auf einem Song, den es schon gibt. Allerdings bis zur Unkenntlichkeit autorenhaft zu eigenem Material verarbeitet. Das Vertraute scheint entrückt in ferne Zeiten der Industrialisierung, die Musik kokettiert derweil mit kontrollierter Psychedelik. Man hört etwas Tingeltangel, man meint, Russ und Rauch zu riechen. Und, obwohl kurz, fasern viele Songs brüchig aus. Die Tracks schöpfen aus der jamaikanische Tieftonmusik und machen Dub salonfähig. Der Klangnavigator bringt elektrifizierte Instrumente mit der Wucht von Orchestern zusammen, stellt die metallischen Klänge der Fender–Stratocaster vor ein atemberaubendes Geigen–Crescendo und generiert Krachkaskaden aus gebrochenen Rhythmen brachial, dreckig und knarzig zusammengeschraubte Beats. Pop ist rhythmisierte, klangerfüllte Zeit, man drückt die Reset–Taste und die Auslöschung beginnt von neuem. Jede Anspielung, mit der er in seinen Stücken arbeitet, ist mikrofein am Computer ziseliert worden, bevor sie als Loopschnipsel in die weiten Flächen des House of Sounds eintaucht. Zonker generiert Echoräume, durch die er die Chords wandern lassen, und das endlose granulatgraue Rauschen, das entsteht, wenn ein akustisches Signal wieder und wieder durch Echokammern wandert. Zitate werden zerschnitten, verfremdet, aus dem Kontext gerissen und in die Soundmaschine geworfen. Mit Tonkaskaden jagt er durch immer exzessivere Stücke.

Aufbegehren muss Stil haben. Der Frickler setzt den Kopfhörer auf, rhythmisch pulsieren Grooves in die Ohren. Sein sympathisches Nervensystem wird durch diese Reize innerviert. Der Beat entwickelt spürbaren Druck, den die Bassfrequenzwellen ihm in die Eingeweide drücken. Zonker rebelliert gegen den technokratischen Sündenfall der elektronischen Tanzmusik und formiert eine androgyne, antisexistische Form von Popmusik. Dancemusic without Dance.

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.