Klaustrophobie

 

Schwarzer Rauch. Die Leiche des Wirtschaftsbosses liegt auf der Strasse. Eine Störung unterbricht den gewohnten Ablauf. Ein Hinweisschild verschafft dem Erklärungsnotstand eine Atempause… schon läuft der Kontext: Die empörte Politikerin lehnt sich weit aus dem Fernseher. Ist sich ihrer Medienpräsenz bewusst. Ihre Kleidung ist auf das Ereignis abgestimmt. Die Abgeordnete schaut ihren WählerInnen vertrauensvoll ins Angesicht.

Herrmann schaltet um. Seine Verbindung zur Aussenwelt besteht aus einer Briefmarkensammlung. Per Knopfdruck ruft er die Programme ab. Hat 42 Kanäle zur Verfügung. Möchte alles sehen. Hört endlosen Sprachdurchfall. Glaubersalz reicht für diese Blähungen nicht. Es scheint ein Trend der Gegenwart zu sein, unter dem Vorwand von Neuentdeckungen Altbekanntes aufzutischen. Herrmann sieht ungesund aus, blass und aufgedunsen, wie gerade aus dem Wasser gezogen. Mit keinem Angebot ist er länger als 23 sec zufrieden. Das Interessante wird umturnt vom Beliebigen. Für Zapper ist Mobilität keine zwanghafte Reaktion und die Flüchtigkeit ihrer Interessen kein Versäumnis. Wer sich von Wurzeln nicht trennt, versinkt in der Informationsflut. Dieses Medium produziert als wahrer Buddha des Westens an jedem Abend eine tief empfundene Bedeutungslosigkeit, ein grosses beleuchtetes Nichts.

Erika ist süchtig nach Glück. Sie sammelt Gewinnspiel–Karten. In Supermärkten grast sie Regale ab, sammelt bunte Werbekarten, wie andere Leute Bonuspunkte. Vor allem wenn attraktive Preise locken. Beim Wunsiedel–Gewinnspiel gibt es einen Smart Coupé, drei Kurztrips ins Disneyland Paris und vier Reisen zu einem nach Urlaub nach Mallorca zu gewinnen. Sie hat die Karten auf den Schreibtisch gepackt und stürzt sich auf die Arbeit. Erika zieht zuerst den bunten Wellkarton im A4–Format aus einem Schrank. Dann schreibt sie den Lösungsspruch auf die Rückseite der 64 Karten, die sie im Supermarkt abgezogen hat. Auf die Vorderseite klebt sie bunte Adress–Sticker mit fünf verschiedenen Namen: Mal in Gold, das ist ihre Farbe, mal in Blau, der Farbe ihres Herrmännchens. Ihr Sohn Björn ist Grün, Tochter Jarna kupferfarben. Seit einigen Tagen hat der künftige Schwiegersohn Einar einen roten Aufkleber. Die präparierten Originalkarten klebt Erika paarweise auf jeweils einen Wellkarton, so dass Vorder– und Rückseite zu sehen sind. Dadurch kann sie zwar nur die Hälfte der Karten an den Veranstalter schicken. Aber das zahlt sich ihrer Erfahrung nach aus. Grössere Karten mit griffigem Karton fielen auf und haben bessere Chancen bei der Ziehung als die dünnen Originalkarten.

Wo die Gemütlichkeit zu Hause ist, lebt das Unheimliche zur Untermiete. Es lugt aus Sofaritzen und Plastikblumenarrangements, verbirgt sich in Teppich– und Tapetenmustern, es kriecht durch jede Ritze und jeden Türspalt, und lauert es unterm Ehebett. Im nächsten Spot schreitet ein beleibter Volksschauspieler durch eine Kulturlandschaft, die von einem Modelleisenbahner erdacht wurde. Finger greifen zu einer Tasse Kaffee. Der Schmierenschauspieler lächelt und zieht seine Begeisterung mit Gemütsbiederkeit in die Länge. Bringt einen gleichgültig routinierten Enthusiasmus auf. Seine Stärke ist, für alles die gleiche Begeisterung aufzubringen. Nicht zu zögern, sondern vollen Herzens zu bejahen. Er sagt einen Werbeslogan auf. Blickt dem Käufer vertrauensvoll in die Augen.

Locken interessante Preise, greift Erika zu einer Zackenschere. Das Schneiderwerkzeug, mit dem sich Säume vor dem Ausfransen schützen lassen, ist ihre Wunderwaffe im Kampf um die Gewinne. Damit verziert sie die Ränder der Karten, die sie an die Veranstalter von Preisausschreiben verschickt. Bei der Ziehung spürt die Glücksfee die Spitzen. Die Teilnahme kostet Erika lediglich das Porto. Zwar gibt es auch online Glücksspiele, doch Erika bevorzugt den Postversand. Mit ihren gezackten Karten wurde sie eine der erfolgreichsten Gewinnspielerinnen. Seit die gelernte Sekretärin ihren Job verlor, bei einem mobilen Telefonanbieter verlor, findet sie fast jede Woche im Briefkasten eine Gewinnmitteilung. Sie hat schon fast alles bekommen, wovon Gewinnspiel–Fans träumen: Hunderte Sachpreise, sechs Fahrräder, fünf Fernsehgeräte, einen sprechenden Globus, ein Gummiboot, Reisen nach Paris, gratis auf Kreuzfahrt am Nil, und ein Abenteuerurlaub auf Mallorca. Ihren bisher grössten Coup landete sie im letzten Jahr: ein grüner Audi. Was sie davon nicht braucht oder mag, verkauft oder verschenkt sie. Etwa den Strandkorb, zu breit für den Balkon. Sie fand eine Pension auf Langeoog, die das gute Stück eher nutzen konnte. Erika und Herrmann packten den Strandkorb aufs Autodach, fuhren an die Nordsee, machten auf Langeoog zu einem vergünstigten Preis Urlaub.

Herrmann kauert in seinem Körper wie in einem Auto. Steht auf geschmeidigen Hüften, ist nicht nur gelenkig, er ist ganz Gelenk. Weicht dem Leben aus. Seine Ehe ist eine Geschichte der Vermeidungen. Zuerst umgingen sie nur die heissen Themen, am Ende umgingen sie einander. Herrmann ist ein durchlässiger Mann, ein Virtuose des Sich–hängen–Lassens, fliessende Bewegungen, einwärts gebogene Gelenke; ein konkaves Wesen, nach innen gewölbt. In die Ärmel ziehen sich die Hände zurück, und mit seiner Körpersprache will er annullieren, was er seiner Frau Erika antut. Wie bei vielen Männern ist sein Leben nur noch souveräne Schuldableitung: vertuschen, ablenken, Zeit gewinnen. Er sieht sich Arschwackel–Clips mit bulligen Goldkettenträgern, die an brennenden Ölfässern aufgewachsen sind und nun das Leben mit Champagnerflasche und Haremanbindung verbringen. Er fragt sich: „Wie bekommen hängende Hosenböden in enorm fetten Turnschuhen so viele hübsche Mädchen dazu, sich für sie halb nackt auszuziehen und ihre Hintern kreisen zu lassen?“

Erika sitzt am Ende des Monats, wenn für 80 Prozent der Gewinnspiele die Einsendefrist abläuft, oft bis in die frühen Morgenstunden an ihrem Küchentisch, stempelt und beschreibt die Teilnahmekarten. Glücklicherweise ist es von Wanne–Eickel nicht weit bis nach Holland. Deshalb fährt sie mit Herrmann einmal pro Monat zum Einkaufen und Tanken mit einer grossen Tüte über die Grenze, stopfen bündelweise Karten in die Briefkästen. Die Post befördert die Karten für knapp die Hälfte des deutschen Portos.

Mediensurfing. Herrmann bleibt hängen. Auf einem Kommerzsender läuft gerade eine Verlosung. Er will seine Frau rufen, als sich die Glücksfee an einer gezackten Karte tief in den Finger schneidet. Bevor er sie herbeirufen kann, wird ein Werbeblock geschaltet. Er klickt weiter. Das Zappen ist eine Kunstform der Vermeidung. Er betrachtet, was man nicht sieht. Der Tastschalter für Lautstärke schützt ihn vor dem Pegel aus der Nachbarwohnung. Er hört eine gellende Stimme. Der Schall dieser Stimme kommt nicht aus dem Lautsprecher:

»Dat Essen ist fertig!«

Bevor er eine Sehnenzerrung herbeizappen kann, schaltet Herrmann ab. Hievt sich aus dem ächzenden Fernsehsessel. Belässt die Elektronik auf Standby.

Die falbe Ehefrau streicht dem müden Papierkrieger über den Kopf. Ihr Ehekrieg ist eine besonders raffinierte Form von Alterserotik, ein sadomasochistisches Liebesspiel, nach dessen Ekstasen man entspannt ein Friedenspfeifchen miteinander raucht. Familienleben ist die Kunst, Erinnerungen so lange nachzubehandeln, bis man mit ihnen leben kann. Das Ehepaar befindet sich in einer Beziehungs–Zeitschleife. Fängt täglich neu an, weil es zu feige ist, aus dem Geborgenheitsgefängnis auszubrechen. Hat sich in eine teppichflauschige Welt geflüchtet und hält sich an das Motto: „Sparen hilft Wünsche erfüllen.“

Der Patriarch setzt sich zwischen die Zierpflanzen unter das Geweih. Ihm fällt ein neuer Motto–Teller auf, mit dem seine Frau die Wand geschmückt hat. Wenn das Herz leer ist, stopft man die Wohnung voll. Auch die Platzdeckchen sind neu. Dafür klebt Knaas am Besteck. Er wischt ihn am Hemdsärmel ab.

Erika ist blass, in sich gekehrt. Eingesperrt in dieses Haus und eingesperrt in einen Körper, den sie ständig diszipliniert, damit er nicht verrät, was sie verheimlichen will. Meist verschränkt sie die Arme vor der Brust, drängt sich zur Ruhe. Von ihrer Stirn biegt sich ein Haar bis hinab zum Brustbein und teilt ihren Horizont, schwingt als Antenne in ihren Blick. Von diesem Fühler bezieht sie ihre Informationen, das Hexensträhnchen ist Symbol all dessen, was in ihr eingesponnen bleibt. Sie ist graziös und starr, eine geheime Energie brennt in ihr, der Stolz auf das ungelebte, aber von ihr leuchtend ausgedachtes Leben. Erika sitzt sehr aufrecht, ihre Augen peilen in die Dunkelheit hinter seinem Rücken. Ihr entströmt der Geruch von süssem Parfüm.

Erika und Herrmann sind nebeneinander herlebende Autisten, die füreinander da sind, einander in erprobter Lebensverweigerung zugetan. Erika tischt Herrmann das lauwarme Essen auf. Herrmann schaufelt den Frass in sich hinein, spült mit einem kühlen Weizenbier nach. Männer essen Fleisch. Frauen essen Gemüse, mit einer Ausnahme: Sie verschlingen Männer. Der Rest ist Sättigungsbeilage.

Zweisamkeitszumutung. Erika und Herrmann sind schon so lange zusammen, dass ihre Sätze ineinander haken wie die Teile eines Reissverschlusses. Die Institution Ehe ist zu nichts anderem gut, als aneinander zu leiden. Wirklich gekämpft und gerungen haben sie schon lange nicht mehr. Sie sehen aus, als habe die Macht der Gewohnheit längst über sie gesiegt und ihre menschlichen Abgründe verschüttet. Der Egoist und die Wahnwitzige. Beide in der Krise. Und dies lebenslang. Denn so sehr sie einander auch das Dasein schwer machen: ein seltsames Begehren kettet sie aneinander. Die Lust am Kontrollverlust kann Erika nur mit jemandem teilen, für den jedes Gefühl eine Zumutung ist. Sie haben es sich in ihrem gemeinsamen Gefängnis gemütlich gemacht. Sind überglücklich, dass sie das TV haben, weil es ihnen ermöglicht, jahrelang in einem Raum zu sitzen, ohne sich gegenseitig umzubringen. Dieses Gerät ist ein Bilderschrein, der ihnen für den Rest des Lebens eine gähnende Routine garantiert. Nur das Vorabendprogramm ändert sich alle 13 Wochen. Eine neue Serienstaffel steht an. Erika erstickt an Tränen, die nicht mehr vergossen werden können, weil der Quell versiegt ist. Sie isst hastig. Pichelt dazu einen Moselwein. Sie schmatzen. Mehr haben sie sich nicht zu sagen, weil sie ihren Frieden in der eigenen Auslöschung gefunden und ihr Glück in der Schwundstufe der Zufriedenheit gefunden haben.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.