Vorbemerkung der Redaktion. Am 01.08.1929 ist die Stadtgründung von Wuppertal im Rahmen des Gesetzes über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets erfolgt. Zu dieser Zeit wohnte die Elfenfelderin Else Lasker-Schüler bereits in Berlin.
Wir wohnten am Fuße des Hügels. Steilauf ging’s von dort in den Wald. Wer ein rotes, springendes Herz hatte, war in fünf Minuten bei den Beeren. Sonntags kamen ganze Familien vom Berge gestiegen, an unserm Haus vorbei. Die Kinder trugen am Arm kleine Körbe, bis an den Rand gefüllt, aber man sah schon ihren blaugefärbten Mäulchen an, was sie gepflückt hatten zur Beilage der Eierkuchen zum Sonntagabendbrot. Ich bin immer so stolz auf unseren großen Wald gewesen, in den man, ob man’s wollte oder nicht, beim Heraufklettern der Sadowastraße hineinblicken mußte. An ihrem Fuße lag mein Elternhaus, außerhalb der Stadt, denn erst später wurde unsere Gegend der Westen. Immer strömte aus dem Walde frischer, grüner Atem und kräftigte die Lunge. Und jeder Baum, jeder Strauch, der mir heute begegnet, erinnert mich an unseren Wald, in dessen friedliche Augen ich blickte, lachend als Kind. Wenn die Gewitter kamen von den vier Himmelsrichtungen, die schwarzgezückten Reiter nahten, setzte sich meine teure Mama auf den Balkon, der zwischen Osten und Westen in der Luft frei zu schweben schien. So war’s einem. In kleinen Nachen glaubte man zu sitzen zwischen den Luftwellen; das bewog meine kühne Mutter zum Einsteigen. Es blitzte aus vier Wolken. Da in Form einer Zacke, dort im Osten stach ein brennender Dolch in die wogende erregte wolkige Himmelsbrust. Mein Vater erinnerte sich seines ehrwürdigen Großvaters, des weißbärtigen Rabbunis vom Rheinland und von Westfalen. Der betete erschüttert vom ehrwürdigsten Schauspiel der Lüfte, sich besternend vor Jehova. Mein Vater jedoch hatte einfach Sorge für seine Georginen und Stiefmütterchen auf den Beeten unseres Gartens; und vor allen Dingen bangte es ihn um seinen reifenden sauren Kirschbaum und seinen Wunderstrauch. Der trug nämlich zweierlei Früchte auf einmal. Mein Papa hatte die Stachelbeere und die Johannisbeere zusammengebracht, sie beide eingeladen und mit des Gärtners Hilfe die zwei vermählt. Sie wuchsen seitdem einträchtig an einem Zweig und Stengel, worauf mein Vater sehr stolz war, ungefähr wie ein Staatsmann, dem es gelang, Staaten zu vereinigen. Ihm dünkte das jedenfalls ebenso wichtig. Doch am schwersten bewegte ihn die herrliche Trauerrose! Die hing wie aus einem Füllhorn üppig hingegossen auf den eben gestickten zarten Grasteppich. Viele, viele, viele weiße Rosen (ich fand sie gar nicht so traurig aussehend) schimmerten, eine Prachtschleppe gebreitet im Abendrot. Und zu guter Letzt tauchten vor meines Vaters betenden Augen die Gerüste seiner Neubauten auf, die, noch ohne Stein und Mörtel, an die Gerippe erinnerten, an denen das Fleisch und das klebende Blut fehlte.
Nach solch einem starken Gewitter kamen immer Arbeiter gelaufen, die ihm Kunde brachten, das oberste Stockwerk oder ein Dach seiner Dächer wäre auf das Dach eines benachbarten Hauses gestürzt – und mein Vater kam aus den Prozessen nicht heraus, zu denen die Leute der Stadt strömten wie zu einem Lustspiel und die mit einer Einigung endigten. Nicht selten brachte mein Vater die Kläger mit heim. Dann ging das Kneipen los, die Nacht hindurch, vom späten Nachmittag angefangen, hörten wir die Klienten sich zutrinken, sich kugeln vor Lachen, nach jedem Toast, den mein Vater wie kein Mensch auf der Welt zu halten verstand, mit allem Lachgewürz, das in der Speisekammer seines breiten, krachenden Herzens zu finden war. Früh am Morgen erholte sich die Prozeßgesellschaft in unserem lieblichen Gärtchen. In meinem Bett weckte mich die choralanschwellende Stimme meines Vaters, die alle anderen Stimmen übertönte, und ich wußte, jetzt machte er die Gäste auf die kristallisierenden Kieselsteinchen, die die Pfade bedeckten, aufmerksam. Für diese Steine, daß sie nur nicht einsinken würden in den Schoß der Erde, hörte ich meinen 12jährigen schneeweißhaarigen Papa manchmal auch ohne Gewitteranlaß zum Herrgott beten. So klein ich auch noch war, es rührte mich doch vorübergehend. Am Sonntag fuhren wir oft in die Umgegend von Elberfeld über die Ronsdorfer Chaussee; zu beiden Seiten herrliche, versunkene Wälder, rechts und links Täler von unsagbarem Glück und schwarzem Glühen. Wir begegneten singenden Handwerksburschen. Wenn sie sehr müde waren, ließen meine Eltern sie auf den Bock steigen. Ich mußte dann vom Bock herunter. Meine schönen Schwestern blühten wie Blumen im rosa und blauen Kleide, und meine Brüder, falls sie zu Hause waren aus ihrem Pensionat in St. Goarshausen, marschierten zu Fuß mit ihren Freunden, die stets in meine Schwestern verliebt waren, schon voraus. Ich trug mit Vorliebe rote Kattunkleidchen, ein geschenktes Klümpchen steckte immer versteckt in einem meiner beiden Täschchen. Ich liebte meine Mama inbrünstig, sie war meine Freundin, mein Heiligenbild, meine Stärkung, meine Absolution, mein Kaiser.
Wie sie sah sicherlich Napoleon Bonaparte aus, darum hatte sie auch eine Napoleon-Sammlung. Mein Papa war einer von den Jungens, mit denen ich Räuber und Gendarms spielte. Und seine Autorität bewahrte er sich immer wieder, da er mir nach dem Sturm eines Streites eine Düte Bonbons zu kaufen pflegte. Wir gingen zusammen in den Zirkus, aber wehe, wenn ich lange machte mit dem Anziehen und wir im letzten Moment kamen und ich dann noch dazu »nochmal – mußte« – wir die erste Nummer versäumten. Er brummte dann die ganze Vorstellung lang und verfluchte mich.
Für sein Fluchen hatte er schon zu Hause von den Eltern Haue bekommen. Wenn auch die Bauern in Westfalen ihn dafür liebten, wo er geboren wurde als vierter Sohn der 23 Kinder. Mit drei Jahren sprang er schon über die Tierhecken und machte alle Streiche, die man zu machen hat als Junge. Für das Theater in Elberfeld hatte mein Vater ein besonderes Faible. Brachte er zu Tische auch nicht immer Schauspieler nach Hause, so waren es mindestens Kunstreiter. Es mußte dann gehext werden, ein, zwei, drei Gänge mehr, und dem August von Renz legte er stets ein Knallbonbon in die Serviette. Mein lieber Vater, meine teure Mutter, in der seltsamen dunklen Arbeiterstadt mit den Tausenden von Schornsteinen über dem Wuppertal in den Rheinlanden! Einsam wandle ich nun durch die engen berückenden Straßen, steige die vielen Hügel hinan, plötzlich steht eine hohe Treppe vor einem, angelangt blickt man in einen Garten voller Veilchen und die wunderbaren lilaen Schaumkrautwiesen! In meinem Heimathause wohnen nun viele Parteien, doch wenn sich das Abendrot, Rubinen des Himmels in seinen Fenstern spiegelt, ist es mir, der Engel Gabriel bewache es ganz allein. Ja, das tröstet mich. Ich lege auf das Grab meiner Mutter ihre Lieblingsblume, das waren Reseden, bringe meinem Vater Veilchen und unter der gebrochenen Säule schläft der jüngste meiner Brüder, ein Heiliger, schön wie Apollon – er starb reinen Herzens. In der Nähe meiner Eltern liegt meine kleine Freundin Hanni begraben. Ich erbte ihre Puppe: Ingeborg. Die hatte blaue Augen wie sie und ein Kettchen um den Hals wie sie. Wenn das große Tor des alten Judenfriedhofes sich hinter mir schließt, ist wieder ein Tag vergangen. Späte Sonne geleitet mich sorgsam die vielen Stufen herab bis in das Innere der lebhaften Stadt Elberfeld.
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Weiterführend →
KUNO würdigte die Poetin mit einem Rezensionsessay. Poesie zählt für die Kulturnotizen weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.
→ Ein Video von Frank Michaelis und A.J. Weigoni aus der Schwebebahn zwischen Elberfeld und Barmen.