Der »Zirkus« ist das erste Alterswerk der Filmkunst. Charlie ist älter geworden seit seinem letzten Film. Aber er spielt sich auch so. Und das Ergreifendste an diesem neuen Film ist, zu fühlen, daß Chaplin den Kreis seiner Wirkungsmöglichkeiten nun überblickt, entschlossen ist, mit ihnen und nur mit ihnen seine Sache zu Ende zu führen. Überall geht die Variante seiner größten Motive in voller Herrlichkeit auf. Die Verfolgung ist in einen Irrgarten verlegt, das unerwartete Auftauchen muß einen Zauberer verblüffen, die Maske des Unbeteiligtseins macht ihn zur Marionette in einer Jahrmarktsbude …
Die Lehre und die Mahnung, die aus diesem großen Werke herausblicken, haben Philippe Soupault den Anstoß zu einem ersten Versuche gegeben, das Bild von Chaplin als historische Erscheinung zu beschwören. Die ausgezeichnete Pariser Revue »Europe« (Rieder, Paris), auf die wir demnächst ausführlicher hinweisen werden, brachte im Novemberheft einen Essay des Dichters, der eine Reihe von Gedanken entwickelt, um die ein endgültiges Bild des großen Künstlers sich eines Tages wird kristallisieren können.1)
Da ist zunächst einmal mit allem Nachdruck gesagt, daß Chaplins Verhältnis zum Film im Grunde ganz und gar nicht das des Akteurs, geschweige des Stars ist. In Soupaults Sinne dürfte man geradezu sagen: Chaplin ist, in seiner Totalität gesehen, so wenig Akteur wie der Schauspieler William Shakespeare. Soupault sagt es und sagt es mit Recht: »Die unbestreitbare Überlegenheit von Chaplins Filmen … beruht darauf, daß in ihnen eine Poesie waltet, auf die jeder im Leben stößt, ohne es freilich immer zu wissen.« Natürlich heißt das nicht, Chaplin sei »Dichter« seiner Filmmanuskripte. Er ist eben Dichter von seinen Filmen, d.h. Regisseur. Soupault hat gesehen, daß Chaplin zuerst (die Russen sind ihm darin gefolgt) den Film auf Thema, Variation, kurz auf Komposition, gestellt hat, und daß das Alles zum herkömmlichen Begriff von spannender Handlung in völligem Gegensatz steht. Soupault hat darum auch so entschieden wie bisher wohl noch niemand, den Gipfel von Chaplins Produktion in »L’opinion publique« erkannt. Jenem Film, in dem er selbst bekanntlich gar nicht auftritt und der in Deutschland unter dem törichten Titel »Die Nächte einer schönen Frau« lief. (Die »Kamera« sollte ihn jedes halbe Jahr wiederholen. Er ist eine Stiftungsurkunde der Filmkunst.)
Wenn wir erfahren, daß für dieses Werk von 3000 m 125 000 m gedreht wurden, so gibt das einen Begriff von der gewaltigen hingebenden Arbeit, die in Chaplins Hauptwerken steckt. Es gibt aber auch einen Begriff von den Kapitalien, die dieser Mann mindestens so nötig wie ein Nansen oder Amundsen braucht, um seine Entdeckungsfahrten nach den Polen der Filmkunst auszurüsten. Man muß Soupaults Besorgnisse teilen, daß die gefährlichen finanziellen Ansprüche von Chaplins zweiter Frau im Verein mit dem Konkurrenzkampf, den die amerikanischen Trusts gegen ihn führen, die Produktion des Mannes lahmlegen. Chaplin soll einen Napoleon- und einen Christus-Film planen. Müssen wir nicht befürchten, solche Projekte seien riesige Paravents, hinter denen der große Künstler seine Müdigkeit birgt?
Es ist gut und nützlich, daß im Augenblick, da das Alter sich zum erstenmal in Chaplins Zügen abzeichnet, Soupault an die Jugend und den territorialen Ursprung seiner Kunst erinnert. Natürlich ist dieses Territorium die Großstadt, London. »Auf seinen endlosen Gängen durch die Londoner Straßen mit ihren schwarzen und roten Häusern lernte Chaplin beobachten. Er selbst hat erzählt, daß der Gedanke, den Typ des Mannes mit der Melone, den Hackschrittchen, dem kleinen kurzgeschnittenen Schnurrbart und dem Bambusstäbchen in die Welt zu setzen, ihm zum erstenmal beim Anblick der kleinen Angestellten vom Strand kam. Ihm sprach aus dieser Haltung und Kleidung die Gesinnung des Mannes, der etwas auf sich hält. Aber auch die andern Typen, die ihn in seinen Filmen umgeben, stammen aus London: das junge, schüchterne, gewinnende Mädchen, der vierschrötige Flegel, der immer drauf und dran ist, mit den Fäusten um sich zu schlagen, und wenn er sieht, daß man vor ihm nicht Angst hat, Reißaus zu nehmen, der anmaßende Gentleman, den man am Zylinder erkennt.« An dieses Selbstzeugnis schließt Soupault eine Parallele zwischen Chaplin und Dickens an, die man nachlesen und weiterverfolgen mag.
Chaplin bestätigt mit seiner Kunst die alte Erkenntnis, daß nur eine sozial, national und territorial aufs strengste bedingte Ausdruckswelt die große unabgesetzte und doch höchst differenzierte Resonanz von Volk zu Volk findet. In Rußland weinten die Leute, als sie den Pélerin sahen, in Deutschland interessiert die theoretische Seite seiner Komödien, in England liebt man seinen Humor. Kein Wunder, daß diese Unterschiede Chaplin selbst verwundern und faszinieren. Mit nichts gibt ja der Film so unverwechselbar zu erkennen, welche gewaltige Bedeutung er haben wird, als daß niemand auf die Idee kam oder kommen könnte, dem Publikum eine höhere Instanz überzuordnen. Chaplin hat sich in seinen Filmen an den zugleich internationalsten und revolutionärsten Affekt der Massen gewandt, das Gelächter. »Allerdings«, sagt Soupault, »Chaplin bringt nur zum Lachen. Aber abgesehen davon, daß das das Schwerste ist, was es gibt, ist es auch im sozialen Sinne das Wichtigste.«
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Philippe Soupault, Charlie Chaplin. In: Europe. Revue mensuelle, Bd. 18, Paris 1928, S. 379-402.