Familienbande

 

Theobald Ulbricht verlässt die Haftanstalt. Sieht sich nicht um. Achtet nicht auf den Gruss. Die gusseiserne Tür schlägt hinter ihm zu. Er ist resozialisiert. Fühlt sich frei. Geht ein paar federnde Schritte. Bleibt auf dem Bürgersteig stehen. Setzt den Koffer ab. Lehnt den Kopf zurück. Breitet die Arme aus. Blinzelt in die Sonne. Schliesst die Augen. Hält sich das linke Nasenloch zu. Atmet tief durch das rechte ein. Wiederholt den Vorgang seitenverkehrt. Öffnet seine Augen. Nimmt seinen Koffer. Geht zielgerichtet auf die Telefonzelle mit dem Münztelefon zu. Öffnet die Tür. Stellt den Koffer erneut ab. Lässt ein paar Münzen in den Schlitz klappern. Wählt die Rufzentrale eines Taxiunternehmens. Bestellt eine Droschke. In der Buchbinderei hat er am Schluss seinen Stundenlohn verdoppelt und gut verdient. Versteuern muss er seinen Verdienst nicht, also führt er es dem Wirtschaftskreislauf wieder zu. Er hängt den Hörer ein. Greift den Koffer. Dreht sich herum.

Jemand reisst die Tür auf. Legt ein Kleinkalibergewehr der Marke Browning Arms Company in Anschlag. Feuert zwölfmal ab. Prügelt mit dem Gewehrkolben auf den Sterbenden ein. Schliesst die Tür der Telefonzelle. Der Hörer baumelt am Apparat herunter. Das Freizeichen der Post summt ein Kontinuum.

Bernhard Merks hastet zu seinem metallicschwarzen Auto zurück. Reisst die Tür auf. Wirft das Gewehr auf den Rücksitz. Knallt die Tür zu. Seine Frau Monika startet den Wagen. Gibt Gas. Wartet nicht, bis ihr Mann sich angeschnallt hat. Sie spürte als Kind die Spannungen, eine latente Gewalt, die immer in der Luft lag. Oft schickte die Mutter sie zu Nachbarn, bevor Streit ausbrach.

Ihre Mutter Judith, im Wagen dahinter, hat Mühe zu folgen. Im Rückspiegel blickt sie kurz auf ihren verblutenden Exmann. 13 Jahre zuvor musste er zum ersten Mal in eine psychiatrische Klinik. Vier weitere Aufenthalte folgten. Ohne die Einnahme starker Antidepressiva kam er nicht mehr aus. In seinen Wahnschüben war er so gefährlich, dass sie sich um die Unversehrtheit ihres Kindes sorgte. Wann ihr das Leben aus den Händen geglitten ist, kann sie nicht sagen. Wahrscheinlich, als sie in das Land der Gottlosen zogen. Sie wollten nie weg aus der Heimatstadt, wollten raus aus der Sozialhilfe, ran an die Arbeit. Glaubten an ihren Abgeordneten, der die Arbeitsgesellschaft für die beste Form der Sozialhilfe hält. In das Land der Gottlosen wurden jene Sozialfälle eingewiesen, die kein Vermieter mehr haben wollte. Über Berge von Matratzen, Müllsäcken und rostigen Hundefutterdosen führt der Weg zu ihrer Behausung. Man musste eine verkohlte Holzstiege hochgehen, am Schlafraum mit der verkeimten Matratze vorbei zum Kinderzimmer. Der Arzt verschrieb ihr Antidepressiva, ihre Tochter kam untergewichtig zur Welt, weil Judith während der Schwangerschaft stark rauchte, Alkohol trank und sich miserabel ernährte.

Ein Wort von Judith Ulbricht hätte damals genügt, um ihren Ehemann für den Rest seines Lebens in die Klapse zu bringen. Statt dessen kämpfte sie jedes Mal um seine Entlassung, verhandelte mit Behörden und bettelte bei den Ärzten. Ihre Geduld langte an einem Endpunkt an, als er volltrunken versuchte, sie mit einem Schlachtermesser zu töten. Sie floh mitten in der Nacht mit ihrer Tochter aus der Wohnung. In Gedanken übersieht Judith das stop–Schild. Legt den 4. Gang ein. Folgt ihrem Schwiegersohn.

Die bestellte Droschke biegt um die Ecke. Travis merkt, dass er kein Geld mehr an einem Transport verdienen kann. Der Taxifahrer bestellt über Funk einen Notarztwagen und liefert eine Skizze des Tatorts.

Die Polizei leitet die Fahndung ein. Alarmstufe rot. Hektischer Funkverkehr. Fahndungsbriefe über Telefax. Der bürokratische Apparat läuft lückenlos. Das Objekt ist geortet. Die Familie wird an einem Grenzübergang gefasst und ins Gefängnis gebracht. Ironie des Schicksals: weil keine andere Zelle frei ist, nächtigt Bernhard Merks in der Gefängniszelle seines Schwiegervaters.

Pressekonferenz. Fototermin. Der Staatsanwalt lächelt messerscharf. Zeigt den Vertretern der Presse sein Gebiss. Er macht seine Arbeit erst, nachdem er sein Image produziert hat. Verabscheut alle vorgefertigten Gewissheiten, ist ein tougher Typ, nicht ohne Persönlichkeit, aber ohne jede Selbstironie. Ist der festen Ansicht, dass Gutgläubigkeit und Vertrauensbereitschaft den Machtinstinkt schwächen. Der Anklagevertreter ist herrschsüchtig, beherrscht, was immer er vorfindet. Nachdem er seinen Mund geöffnet hat, gibt er den Journalisten die harten Facts über diesen Fall von Blutschande bekannt.

Der Täter sei geständig. Bernhard Merks habe seinen Schwiegervater getötet. Der Grund sei die unbewältigte Vergangenheit. Für Theobald Ulbricht war seine Tochter sein persönlicher Besitz. Er steigerte seinen Selbstwert damit, seine Kinder zu beherrschen und hat das Mädchen im Alter von dreizehn Jahren zum ersten Mal vergewaltigt. Die Momente, in denen er sich sexuell beschaffen konnte, was er brauchte, waren die einzigen, in denen er seinen Selbsthass und seinen Zorn nicht spürte. Wie die meisten Menschen konnte er die Welt nur im Spiegel der eigenen Person begreifen. Theobald Ulbricht war völlig auf Eroberung fixiert. Die Jagd verschaffte ihm kurze Momente von Anerkennung, sogar von Hoffnung. Er wollte dominieren, keine Intimität, keine Gefühle, kein Risiko. Es ging nicht um Frauen, es ging um Körperteile.

Theobald Ulbrichts Generation ist nicht spontan, weil sie glaubt, bereits alles zu kennen. Und ist trotzdem überrascht, wenn die eigene Erfahrung wehtut. Sie sind wie ihre Zeit: grobschlächtig, taktlos, derb. Eine dumpfe Körperlichkeit, Intrigen, Ausgrenzungsmechanismen und üble Nachrede sind im Land der Gottlosen an der Tagesordnung. Seine Frau Judith hat aus Angst vor den Nachbarn geschwiegen und bei Foto– und Videoaufnahmen mitgemacht, um die Sozialhilfe aufzubessern. Für einen Verleiher in Belgien hat das Ehepaar Kinderpornos hergestellt. Niemand aus der Nachbarschaft wunderte sich, warum sich die Familie einen Neuwagen und Fernreisen leisten konnte. Drei Jahre nach der ersten Vergewaltigung wurde eine Schwangerschaft festgestellt. Monika gebar ein geistig behindertes Kind. Erst als sie Bernhard Merks heiratete, hatte sie den Mut, das Jugendamt in Kenntnis zu setzen. Ihr Vater wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt und wegen guter Führung nach vier Jahren entlassen, auch weil er sich bei seinem Hafturlaub nichts hat zu schulden kommen lassen.

Wer der Vergangenheit nachjagt, muss schnell sein. Der Anschlag wird zur Schlagzeile. Spalten können aufgefüllt werden. Kamerateams verzahnen die Realität und mit der Medialität. Der Tod ist der unverbrauchbare Köder der Medien, Tote werden in die Augen der Zuschauer hinein beerdigt und auf diese Weise entgegen aller sonstigen Verdrängung des Todes zu einem öffentlichen Ereignis. Das Sommerloch wird abgefüllt.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.