Monat: November 2010

HÄUTE

lieg ich nackt auf den narben der erde wärmt mich  die leichendecke des himmels werf ich ab die haut  das pergament die deckung meines geistes hebt sich  der leib mit einem schwachen zittern der beine vergieß ich mein blut um…

Ein Außenseiter macht sich bemerkbar

  Uralt, vielleicht so alt wie das Schrifttum selber, ist in ihm der Typus des Mißvergnügten. Thersites, der homerische Lästerer, der erste, zweite, dritte Verschworene der Shakespeareschen Königsdramen, der Nörgler aus dem einzigen großen Drama des Weltkrieges, sind wechselnde Inkarnationen…

Brille

  Anstatt seine Argumente anzuhören, seine Brille anziehen und die Welt aus seiner Sicht betrachten.     *** Ein Ausblick auf: Blempek ist ein Trick, der sich bewährt, von Joanna Lisiak Weiterführend → Holger Benkel denkt in einem Rezensionsessay anhand…

Zuhausesein

  Ich habe die von Peter Ettl engagiert betreute Reihe schnell schätzen gelernt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, habe ich diese sympathisch gestalteten Broschüren als Lyrikbände erlebt, die einen guten Einblick in die deutschsprachige Lyrikproduktion nach 2000 abseits der im Fokus…

Ästhetische Wiederverwertung

  Als Seismograph zunächst kaum wahrnehmbare Verschiebungen wahrnehmen. Die Sinnkrise mündet in eine Untergangsstimmung. Ein Sturzbach reißt alle Planken des Bewusstseins mit… Denken bedeutet, die Welt ins wahre Unvergängliche zu heben. Poesie ist kein Grabmal für eine untergegangene Welt, sie…

„Wo warst Du letzte Nacht?“

  „Das ist so lange her, ich erinnere mich nicht.“ „Sehen wir uns heute Nacht?“ „Ich plane nie so weit im voraus.“       *** Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Am 26. November 1942 feierte Casablanca in…

Das Karussell

Das Brett mit den dienstbaren Tieren rollte dicht überm Boden. Es hatte die Höhe, in der man am besten zu fliegen träumt. Musik setzte ein, und ruckweis rollte das Kind von seiner Mutter fort. Erst hatte es Angst, die Mutter…

Die Kiste XI

  Eine unglaubliche Müdigkeit hatte ihn seit Tagen erfasst, sogar rund um die Augen konnte man sehen, dass etwas los war mit ihm. Aber woran konnte es nur liegen? Vielleicht daran, dass kaum noch einmal Zeit war, um Ruhe zu…

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wenn bloss die Nacht nicht und die Sterne vorm Blick zittern glücklich wer keine Augen mehr hat *** Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das…

Die Wiederkehr des Flaneurs

  Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsorte der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, daß die von Einheimischen verfaßten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt…

Altar

    Mit demselben Gefühle, mit welchem du bei dem Abendmahle das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle, sage ich, erwürgt der Mexikaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.   *** Heinrich von Kleist stand…

Pflanzen 3. (Fagus purpurea)

  Rot raschelts im Moerser Park: rot, tiefrot — dies ist die blutige Buche: die BlutundBodenbuche, die Steguweit grüßte bei Brühl: auf fettem Heimatgrund, der ihm gütiger schien als der von Flandern. Im flirren Blattwerk lischelt ein Wind, der auch…

In diese Richtung

  In diese Richtung die Gebärde mit der nächsten Flut. Wenn da drüben wirklich America liegt, ist es zwecklos, wieder im ADVANCED nachzuschlagen (und wieder die Tautologie). Vom letzten Haus bis zur Fahrer sind es keine hundert Schritte, die Fähre…

things change

  l  (im keller leben) claus aus st.pauli lädt mich dann zu sich ein. so lerne ich die hafenstraße kennen. aus wenigen wochen sind zuletzt sechs jahre geworden. claus lebt im sechserblock. eine selbstgebaute brücke überspannt den lichthof. im keller…

the bird

Wherever the bird with no feet flew, she found trees with no limbs,   *** Audre Geraldine Lorde (* 18. Februar 1934 in Harlem, New York City; † 17. November 1992 in Christiansted, Saint Croix, Amerikanische Jungferninseln) war eine US-amerikanische…

SPIELWAREN

  MODELLIERBILDERBOGEN. Buden haben wie große schwankende Kähne zu beiden Seiten die steinerne Mole angelaufen, auf der die Leute sich schieben. Es gibt Segler, die Masten aufragen lassen, an denen die Wimpel herunterhängen, Dampfer, aus deren Schornsteinen Rauch steigt, Lastkähne,…

Biermanns Dialektik

  Wolf Biermann sagt das Wahre immer so entsetzlich schief, dass es dadurch wieder falsch wird, Biermanns Dialektik ist schizophrene ungehobelte Scholastik.     *** Weiterführend → Das erste Fazit von Ulrich Bergmann zur Twitteratur viel eher skeptisch aus. Er stellte…

Bemerkungen über uns närrische Menschen

  An ungebildeten Leuten ärgert einen Eigennutz nicht.       *** Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Lesen Sie sowohl den Essay über Jean Paul auf KUNO, als auch feinstes Rezensionsfeuilleton von Wolfgang Schlott.

The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman

In diesem Sinne mach ich aufmerksam auf einen Mann, der die große Epoche reinerer Menschenkenntnis, edler Duldung, zarter Liebe in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zuerst angeregt und verbreitet hat. An diesen Mann, dem ich so viel verdanke, werd…

ANTIQUITÄTEN

  MEDAILLON. An allem, was mit Grund schön genannt wird, wirkt paradox, daß es erscheint. GEBETMÜHLE. Lebendig nährt den Willen nur das vorgestellte Bild. Am bloßen Wort dagegen kann er sich zu höchst entzünden, um dann brandig fortzuschwelen. Kein heiler…

Das Unwandelbare

  »Unaufhaltsam enteilet die Zeit.« – Sie sucht das Beständge. Sei getreu, und du legst ewige Fesseln ihr an.     *** Der Homo ludens ist ein Erklärungsmodell, wonach der Mensch seine kulturellen Fähigkeiten vor allem über das Spiel entwickelt: Der…

Die Untoten sind – lebendig!

Der Begriff Zombie leitet sich von dem Wort nzùmbe aus der in Nord-Angola beheimateten Bantusprache Kimbundu ab. Er bezeichnete dort ursprünglich einen Totengeist, eine Bedeutung, die das im Kreolischen gebräuchliche Wort zonbi (gesprochen zombi) in Haiti noch besitzt. Zombies, der…

Rückblende

  Die Sperrstunde naht. Kein Pardon. Hier ist man strenger als anderswo. Peter Nitsche, Inhaber der G–Bierbar, stellt noch einen Absacker auf den Tresen. Die verbliebenen Gäste kippen den Korn, stellen die Gläser mit einem Ruck auf der Theke ab,…

Der Himmel

  Der Himmel in schweren grauen Bahnen tapeziert, Heimkehrer in seiner eigenen Dämmerung, darunter Häuser wie verwaschene Skulpturen im Nebel. Der Tag schließt sich schweigend einer geheimnisvollen Mehrheit an. Die Ideen dämmern in den Schädel hinein. Man ist im Sitzen…

Übersetzungen

  Wer übersetzt, arbeitet in zwei Sprachen. Sein Material vielmehr: sein Organ – ist neben seiner Muttersprache nicht sowohl der fremde Text als vielmehr dessen Sprache. Aus beiden Sprachen baut er etwas auf und kann gemeinhin schon von Glück sagen,…

still he is turning: one two three

  one: hamburger guck – ein rundling ohne namen(boskoop berlepsch bittenfelder) wenn er fällt: bewegungsmelderinszeniert bloß kleine dramen grünhalm knickt hör boden bebenkerbtier nagt die dralle beute schaf kingfisher [hund] katze heutemorgen möglich dichter leben two: unter bäumen hughes gold-peppinggeflammter…

x-chen

  noch im deckmantel unfertig regt sich wachstum fließend sich faltet ein gang in gott zum fliegen bestimmt muss es seiner flugidee treu bleiben       *** Klee composé. Lyrik mit Paul Klee, Gedichte von Joanna Lisiak. Littera Autoren…

Aufräumen

Alle paar Wochen muss der Arbeitsplatz wirklich aufgeräumt werden. Auf den Tischen haben sich allerhand Materialien und Werk- zeuge angesammelt. Auf dem Boden Reste der Arbeit, Schnipsel und Holzspäne, auch mal recht rutschiger Sand. Der wird immer gebraucht, sei es…

Traum und Umnachtung

  Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts. Manchmal erinnerte er sich seiner Kindheit, erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis, verschwiegener Spiele…

ABGESCHABT

  reißen tapeten in speichern und küchen komm ich aus zerfallenem papiergeröll im kopf such ich brot und fleisch stieben tropfen wie funken unterm dampf der kessel seh ich schwarz flieh ich in zerstrahltem staub schützt mich mein skelett auf…

Ein Spiel dauert 90 Minuten

    Ein Spiel dauert 90 Minuten. Und wie lange dauern 90 Minuten? Wie lange dauern sie ohne Gesellschaft? Und wer erträgt sie? Ilse Aichinger         An Ingeborg Bachmann schrieb Ilse Aichinger in einem Brief, daß sie…