Aufräumen

Alle paar Wochen muss der Arbeitsplatz wirklich aufgeräumt werden. Auf den Tischen haben sich allerhand Materialien und Werk- zeuge angesammelt. Auf dem Boden Reste der Arbeit, Schnipsel und Holzspäne, auch mal recht rutschiger Sand. Der wird immer gebraucht, sei es als Halter von Betonplastiken im Eimer, sei es um Strukturpaste herzustellen oder weil gerade kein Schmirgelpapier zur Hand ist (Einfach starkes Papier mit Holzleim einstreichen und mit Sand bestreuen, Rest herunter klopfen und schon ist nach zehnminütiger Trocknungszeit das Schmirgelpapier fertig.). Mit anderen Worten und weniger pittoresk ausgedrückt ist alles zu sehr verdreckt, um weiter ordentlich arbeiten zu können. Angeblich braucht man ja Chaos als Künstler (solche Gerüchte sind genauso widersinnig wie die Vorstellung, dass Künstler erst nach ihrem Tode berühmt werden, wer es vorher nicht war, wird es hinterher nimmermehr), aber das sollte zumindest irgendeine Struktur auf- weisen. Arbeitshinderlich. Ein fast ewig anmutender Zustand von Einräumen und Ordnen – und dem zuerst langsam, dann immer schleuniger sich ausbreitendem Unrat. So räumt er denn auf und betrachtet verwundert, dass da Dinge plötzlich ausgebreitet wur- den, die er mit Sicherheit dort nicht hingelegt hat, haben kann und vor allem nicht will, denn diese Form der Streuung ist einfach zu mutwillig und genau platziert. Dreist drapierte Dinge, die wie Stillleben starken Stilverstoß stützen. Da muss er genauer hinsehen. Wer könnte hier eingegriffen haben, in seine unterschwellige Ordnung, sein Ichbinhier-Zeichensystem?

Es kann nur zwei Menschen geben, die sich solcher Sachverdrehungen bedienen könnten, die die dort dargestellte Dreistigkeit derart drastisch zu ziemlich zwanghaften Zwischenwelten zelebrieren würden, sei es aus simplem Spieltrieb, sei es aus reiner Neugier, ob der Aufräumende dies denn auch bemerken würde.

Die beiden sind schnell dingfest gemacht, können mit aufräumen und tun dies sogar mit einer gewissen Freude bis Genugtuung – der Alte ist doch noch nicht ganz verblödet und merkt, was wir machen. Assistenten!

Dann kommt der zu den Pinseln und muss feststellen, dass diese ziemlich durcheinander gebracht wurden, auch hier kein Zufall. Normalerweise ordnet er die Pinsel nach folgenden Kriterien: Schmalflachlang, breitflachlang, dünnrundlang, dickrundlang, flachklein, rundklein und sehrbreit. Dadurch ergeben sich sieben Gruppen mit jeweils bis zu fünfzig Pinseln, die achte Kategorie sind die Schellackpinsel, ehemals lange, die an einer Seite brutal bewusst abgesägt wurden. Das hat seinen Grund einerseits in der Kenntlichmachung, dass dieser Pinsel für keine anderen Farben verwendet werden darf, andererseits in der schlichten Praxis, dass diese Pinsel normalerweise in Alkohol stehen, und damit dieser nicht verdunstet, ist ein bischofsmützen(mitren-)artiger Deckel aufgebracht und der braucht einfach kleine Pinsel. Also finden sich dort acht weiße Plastikbecher – hatten wir schon – diese Salben- kruken aus der Apotheke, die vor allem aus solchen Pharmazien gut zu beziehen sind, die in der Nähe Hautärzte haben, dort dann sogar mit Kusshand umsonst abgegeben werden. Da passt immer ein Liter Salbenbasis rein. Besonders geeignet sind sie für das aufbewahren von Pigmenten und alkoholhaltigen Lösungen, wie Schellack oder Fernambukholzextrakt.

Jetzt stehen aber über zwanzig dieser Becher auf dem Tisch und alles scheint in wilder Wirrsal durcheinander. Oh Graus. Auf die Frage nach dem Warum eine klare Antwort der Zwei: Wir haben dein System nicht verstanden und dann haben wir uns eines ausgedacht, dass dir auch gefallen könnte: Wenn man die Pinsel in zwanzig Härtegrade unterteilte, dann wüsste man immer, welche mit Farbe versauten als nächste entsorgt werden müssten.

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Seit 1994 veröffentlich Herr Nipp auf KUNO unerhörte Geschichten mit dem Titel Das Mittelmaß der Welt. In 2011 ist es soweit, sein erstes Buch mit dem Titel Die Angst perfekter Schwiegersöhne erscheint in der Edition Das Labor.

Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421