SPIELWAREN

 

MODELLIERBILDERBOGEN. Buden haben wie große schwankende Kähne zu beiden Seiten die steinerne Mole angelaufen, auf der die Leute sich schieben. Es gibt Segler, die Masten aufragen lassen, an denen die Wimpel herunterhängen, Dampfer, aus deren Schornsteinen Rauch steigt, Lastkähne, die ihre Ladung lange verstaut halten. Darunter sind Schiffe, in deren Bauch man verschwindet; nur Männer dürfen hinunter, aber man sieht durch Luken hindurch Frauenarme, Schleier und Pfauenfedern. Anderswo stehen Fremdlinge auf dem Verdeck und scheinen mit exzentrischer Musik das Publikum abschrecken zu wollen. Aber wie gleichgültig wird es nicht empfangen. Man steigt zögernd hinauf, mit breitem, wiegendem Gange wie über Schiffstreppen, und bleibt, solange man oben ist, gewärtig, daß sich das Ganze vom Ufer ablöst. Die schweigsam und benommen dann wieder auftauchen, haben auf roten Skalen, wo gefärbter Weingeist auf- und absteigt, die eigene Ehe werden und vergehen sehen; der gelbe Mann, der unten anfing zu werben, verließ am oberen Ende dieses Maßstabs die blaue Frau. In Spiegel haben sie geblickt, wo ihnen wässerig der Boden unter den Füßen fortschwamm und sind über rollende Treppen ins Freie gestolpert. Unruhe bringt die Flotte übers Quartier: Frauen und Mädchen da drinnen sind frech aufgelegt und alles Eßbare wurde im Schlaraffenland selber verladen. Man ist so gänzlich durch das Weltmeer abgeschnitten, daß alles wie zum ersten- und zum letztenmal zugleich hier angetroffen wird. Seelöwen, Zwerge und Hunde sind wie in einer Arche aufbewahrt. Sogar die Eisenbahn ist ein für allemal hier eingebracht und fährt auf ihrem Kreislauf immer wieder durch einen Tunnel. Für einige Tage ist das Quartier zur Hafenstadt einer Südseeinsel geworden und die Bewohner Wilde, welche in Begier und Staunen vor dem vergehen, was Europa ihnen vor die Füße wirft.

SCHIESSSCHEIBEN. Schießbudenlandschaften müßten, in einem Korpus gesammelt, beschrieben werden. Da war eine Eiswüste, von der an vielen Stellen weiße Tonpfeifenköpfe, die Zielpunkte, strahlenförmig gebündelt, sich abhoben. Hinten, vor einem unartikulierten Streifen Waldes, waren zwei Förster aufgemalt, ganz vorn, gleichsam Versatzstücke, zwei Sirenen mit provozierenden Brüsten in Ölfarbe. Anderswo sträuben sich Pfeifen im Haar von Frauen, die selten mit Röcken gemalt sind, meist in Trikots. Oder sie gehen aus einem Fächer hervor, den sie in der Hand entfalten. Bewegliche Pfeifen drehen sich langsam im hinteren Grunde der „Tirs aux Pigeons“. Andere Buden präsentieren Theater, in denen der Beschauer mit der Flinte Regie führt. Trifft er ins Schwarze, dann fängt die Vorstellung an. So waren einmal sechsunddreißig Kästen und überm Bühnenrahmen stand bei jedem, was man dahinter zu erwarten hatte: „Jeanne d’Arc en prison“, „L’hospitalité“, „Les rues de Paris“. Aus einer anderen Bude: „Exécution capitale“. Vor dem verschlossenen Tore eine Guillotine, ein Richter im schwarzen Talar und ein Geistlicher, welcher das Kreuz hält. Trifft der Schuß, geht das Tor auf, ein Holzbrett schiebt sich vor, auf dem der Delinquent zwischen zwei Schergen steht. Er legt sich automatisch unters Fallbeil und der Kopf wird ihm abgehauen. Dieselbe: „Les délices du mariage“. Ein kümmerliches Interieur eröffnet sich. Den Vater sieht man mitten in der Stube, er hält ein Kind auf den Knien, mit seiner freien Hand schaukelt er die Wiege, in welcher noch eines liegt. „L’enfer“ – wenn ihre Pforten auseinandergehen, erblickt man einen Teufel, welcher eine arme Seele quält. Daneben drängt ein anderer einen Pfaffen auf den Kessel zu, in welchem die Verdammten schmoren müssen. „Le bagne“ – ein Tor, davor ein Gefängniswärter. Wenn man getroffen hat, zieht er an einer Glocke. Es klingelt, das Tor geht auf. Man sieht zwei Sträflinge an einem großen Rade hantieren; sie scheinen es drehen zu müssen. Wieder eine andere Konstellation: ein Geiger mit seinem Tanzbär. Man schießt hinein und der Fiedelbogen bewegt sich. Der Bär schlägt mit einer Tatze die Pauke und hebt ein Bein. Man muß an das Märchen vom tapferen Schneiderlein denken, könnte auch Dornröschen mit einem Schusse wieder erweckt, Schneewittchen durch einen Schuß von dem Apfel befreit, Rotkäppchen in einem Schuß sich aufgelöst denken. Der Schuß schlägt märchenhaft, mit jener heilsamen Gewalt ins Dasein der Puppen ein, die den Ungetümen das Haupt vom Rumpfe haut und als Prinzessinnen sie entlarvt. So wie bei jenem großen aufschriftlosen Tor: wenn man gut gezielt hat, öffnet es sich und vor roten Plüschvorhängen steht ein Mohr, der sich leicht zu verneigen scheint. Er trägt vor sich her eine goldene Schüssel. Darauf liegen drei Früchte. Es öffnet die erste sich, und eine winzige Person steht drin und verbeugt sich. In der zweiten drehen sich tanzend zwei ebenso winzige Puppen. (Die dritte tat sich nicht auf.) Darunter, vor dem Tisch, auf dem die sonstige Szenerie sich aufbaut, ein kleiner Reiter aus Holz mit der Überschrift: „Route minée“. Trifft man ins Schwarze, so knallt es, und der Reiter mit seinem Pferd überschlägt sich, bleibt aber, wohlverstanden, auf ihm sitzen.

STEREOSKOP. Riga. Der tägliche Markt, die gedrängte Stadt aus niedrigen Holzbuden zieht auf der Mole, einem breiten, schmutzigen Steinwall ohne Speichergebäude sich am Wasser der Düna entlang. Kleine Dampfer, die oft kaum mit dem Schornstein über die Kaimauer reichen, haben die schwärzliche Zwergenstadt angelaufen. (Die größeren Schiffe liegen dünaabwärts.) Schmutzige Bretter sind der tonige Grund, auf dem, in der kalten Luft leuchtend, einige wenige Farben zergehen. An manchen Ecken stehen hier das ganze Jahr neben Fisch-, Fleisch-, Stiefel- und Kleiderbaracken Kleinbürgerweiber mit den bunten Papierruten, die nach Westen nur um die Weihnachtszeit vordringen. Von der geliebtesten Stimme gescholten werden – so sind diese Ruten. Für wenige Santimes vielfarbige Strafbüschel. Am Ende der Mole liegt in hölzernen Schranken nur dreißig Schritt vom Wasser entfernt mit seinen rotweißen Bergen der Äpfelmarkt. Die feilgebotenen Äpfel stecken im Stroh und die verkauften ohne Stroh in den Körben der Hausfrauen. Eine dunkelrote Kirche erhebt sich dahinter, die in der frischen Novemberluft gegen die Backen der Äpfel nicht aufkommt. – Mehrere Läden für Schifferbedarf in kleinen Häuschen unweit der Mole. Taue sind aufgemalt. Überall sieht man die Ware abgemalt auf Schildern oder auf die Hauswand gepinselt. Ein Geschäft in der Stadt hat auf der unverputzten Ziegelwand Koffer und Riemen überlebensgroß. Ein niedriges Eckhaus mit einem Laden für Korsetts und Damenhüte ist mit geputzten Damengesichtern und strengen Miedern auf ockergelbem Grunde bemalt. Im Winkel davor steht eine Laterne, die auf den Glasscheiben Ähnliches darstellt. Das Ganze ist wie die Fassade eines Phantasiebordells. Ein anderes Haus, ebenfalls unweit des Hafens, hat Zuckersäcke und Kohlen grau und schwarz plastisch auf grauer Hauswand. Schuhe irgendwo anders regnen aus Füllhörnern nieder. Eisenwaren sind bis ins einzelne, Hämmer, Zahnräder, Zangen und kleinste Schräubchen auf ein Schild gemalt, das wie eine Vorlage aus veralteten Kindermalbüchern aussieht. Mit solchen Bildern ist die Stadt durchsetzt: gestellt wie aus Schubladen. Dazwischen aber ragen viel hohe festungsartige, todtraurige Gebäude heraus, die alle Schrecken des Zarismus wachrufen.

UNVERKÄUFLICH. Mechanisches Kabinett auf dem Jahrmarkt zu Lucca. In einem langgestreckten symmetrisch geteilten Zelt ist die Ausstellung untergebracht. Einige Stufen führen herauf. Das Aushängeschild vertritt ein Tisch mit einigen unbeweglichen Puppen. Durch die rechte Öffnung betritt man das Zelt, durch die linke verläßt man es wieder. Im hellen Innenraume ziehen zwei Tische sich in die Tiefe. Sie stoßen an der inneren Längskante zusammen, sodaß nur ein schmaler Raum für den Umgang bleibt. Beide Tische sind niedrig und glasgedeckt. Auf ihnen stehen die Puppen (zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter hoch im Durchschnitt), während in ihrem unteren verdeckten Teile das Uhrwerk, das die Puppen treibt, vernehmbar tickt. Ein kleiner Tritt für Kinder läuft an den Kanten der Tische entlang. An den Wänden sind Zerrspiegel. – Dem Eingang zunächst sieht man Fürstlichkeiten. Jede macht irgendeine Bewegung: die eine mit dem rechten oder linken Arm eine weitausholende einladende Geste, die anderen eine Schwenkung der gläsernen Blicke; manche rollen die Augen und rühren die Arme zu gleicher Zeit. Franz Joseph, Pio IX., thronend und flankiert von zwei Kardinälen, die Königin Elena von Italien, die Sultanin, Wilhelm I. zu Pferde, Napoleon III. klein und kleiner noch Vittorio Emmanuele als Kronprinz stehen da. Biblische Figurinen folgen, darauf die Passion. Herodes befiehlt mit sehr mannigfachen Bewegungen des Hauptes den Kindermord. Er öffnet weit den Mund und nickt dazu, streckt den Arm aus und läßt ihn wieder fallen. Zwei Henker stehen vor ihm: der eine leerlaufend mit schneidendem Schwert, ein enthauptetes Kind unterm Arm, der andere, im Begriffe zuzustechen, steht, bis aufs Augenrollen, unbeweglich. Und zwei Mütter dabei: die eine unaufhörlich sacht ihren Kopf schüttelnd wie eine Schwermütige, die andere langsam, flehend die Arme hebend. – Die Nagelung ans Kreuz. Dieses liegt am Boden. Die Schergen schlagen den Nagel ein. Christus nickt. – Christus gekreuzigt, von dem Essigschwamm getränkt, den ihm ein Kriegsknecht langsam, ruckweis reicht und augenblicklich wieder entzieht. Der Heiland hebt dabei ganz wenig das Kinn. Von hinten beugt ein Engel mit dem Kelch für Blut sich übers Kreuz, führt ihn vor und zieht ihn dann, als wäre er gefüllt, zurück. – Der andere Tisch zeigt genrehafte Bilder. Gargantua mit Knödeln. Vor einem Teller schaufelt er mit beiden Händen sie in den Mund, indem er abwechselnd den rechten und den linken Arm hebt. Beide Hände halten je eine Gabel, an der ein Kloß steckt. – Ein spinnendes Alpenfräulein. – Zwei Affen, die Geige spielen. – Ein Zauberer hat zwei tonnenartige Behälter vor sich. Der rechte öffnet sich und daraus taucht mit ihrem Oberkörper eine Dame. Sodann versinkt sie. Es öffnet sich der linke: daraus hebt zu halber Höhe sich ein Männerleib. Von neuem öffnet sich der rechte Behälter und nun steigt da der Schädel eines Bocks mit dem Gesicht der Dame zwischen den Hörnern hervor. Danach hebt es sich links: ein Affe stellt sich statt des Mannes dar. Sodann geht alles wieder von vorne an. – Ein anderer Zauberer: er hat vor sich einen Tisch und hält je einen umgekehrten Becher in der rechten und linken Hand. Darunter erscheinen, wie er abwechselnd den einen oder den anderen hebt, bald ein Brot oder ein Apfel, eine Blume oder ein Würfel. – Der Zauberbrunnen: kopfschüttelnd steht ein Bauernknabe vor einem Ziehbrunnen. Ein Mädchen zieht und der unabgesetzte dicke Strahl aus Glas rinnt aus der Brunnenöffnung. – Die verzauberten Liebenden: Ein goldenes Gebüsch oder eine goldene Flamme tut in zwei Flügeln sich auf. Darin werden zwei Puppen sichtbar. Sie wenden die Köpfe einander zu und dann wieder ab, als sähen sie mit fassungslosem Staunen sich an. – Unter allen Figuren ein kleines Papier mit der Aufschrift. Das Ganze aus dem Jahre 1862.

 

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Die Einbahnstraße ist eine entscheidende Gelenkstelle in Benjamins Gesamtwerk, in der Überlegungen des Frühwerks transformiert werden, um sie dann in späteren Arbeiten weiterzuführen. Dies veranschaulicht insbesondere die 43 Texte umfassende »Nachtragsliste zur Einbahnstraße«, die Benjamin Anfang bis Mitte der dreißiger Jahre zusammenstellte. Sie wird, neben dem Erstdruck und allen handschriftlichen Vorstufen sowie zeitgenössischen Rezensionen, in der neuen Edition erstmals als Einheit zu lesen sein. Der Kommentar und das Nachwort des Herausgebers machen zudem die Verbindung der einzelnen Texte mit dem Gesamtwerk Benjamins sichtbar und zeigen, inwiefern die Einbahnstraße die Tradition der europäischen Aphoristik aufgenommen und zugleich erneuert hat.

Zum 70. Todestag von Walter Benjamin erinnert KUNO an diesen undogmatischen Denker und läßt die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken aufscheinen. Bei KUNO präsentieren wir Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten, wobei das Denken von der Sprache kaum zu lösen ist. Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.