Der erste Schrank, der aufging, wann ich wollte, war die Kommode. Ich hatte nur am Knopf zu ziehen, so schnappte die Tür aus ihrem Schlosse mir entgegen. Drinnen lag meine Wäsche aufbewahrt. Unter all meinen Hemden, Hosen, Leibchen, die dort gelegen haben müssen und von denen ich nichts mehr weiß, war aber etwas, das sich nicht verloren hat und mir den Zugang zu diesem Schranke stets von neuem lockend und abenteuerlich erscheinen ließ. Ich mußte mir Bahn bis in den hinteren Winkel machen; dann stieß ich auf meine Strümpfe, welche da gehäuft und in althergebrachter Art, gerollt und eingeschlagen, ruhten, so daß jedes Paar das Aussehen einer kleinen Tasche hatte. Nichts ging mir über das Vergnügen, meine Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Und nicht nur ihrer wolligen Wärme wegen. Es war »Das Mitgebrachte«, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt und das mich derart in die Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, fing der zweite Teil des Spiels an, der die atemraubende Enthüllung brachte. Denn nun ging ich daran, »Das Mitgebrachte« aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende vollzogen war: »Das Mitgebrachte« seiner Tasche ganz entwunden, jedoch sie selbst nicht mehr vorhanden war. Nicht oft genug konnte ich so die Probe auf jene rätselhafte Wahrheit machen: daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes, »Das Mitgebrachte« und die Tasche eines waren. Eines – und zwar ein Drittes: jener Strumpf, in den sie beide sich verwandelt hatten. Bedenke ich, wie unersättlich ich gewesen bin, dies Wunder zu beschwören, so bin ich sehr versucht, in meinem Kunstgriff ein kleines, schwesterliches Gegenstück der Märchen zu vermuten, welche gleichfalls mich in die Geister- oder Zauberwelt einluden, um am Schluß mich gleich unfehlbar der schlichten Wirklichkeit zurückzugeben, die mich so tröstlich aufnahm wie ein Strumpf. Danach vergingen Jahre. Mein Vertrauen in die Magie war schon erschüttert; schärferer Reize bedurfte es, um es zurückzubringen. Ich begann sie im Sonderbaren, Schrecklichen, Verwunschenen zu suchen, und auch diesmal war’s ein Schrank, vor dem ich sie zu kosten trachtete. Aber das Spiel war ein gewagteres. Mit der Unschuld war es vorbei und ein Verbot erschuf es. Verboten nämlich waren mir die Schriften, von denen ich mir reichlichen Ersatz für die verlorene Märchenwelt versprach. Zwar blieben mir die Titel – »Die Fermate«, »Das Majorat«, »Heimatochare« – dunkel. Jedoch für alle, die ich nicht verstand, hatte der Name »Gespenster-Hoffmann« und die strenge Weisung, ihn niemals aufzuschlagen, mir zu bürgen. Endlich gelang es mir, zu ihnen vorzustoßen. Vormittags konnte es sich treffen, daß ich von der Schule schon zurück war, ehe noch die Mutter aus der Stadt, mein Vater aus dem Geschäft nach Hause gekommen waren. An solchen Tagen ging ich ohne die geringste Zeitversäumnis an den Bücherschrank. Das war ein sonderbares Möbel; der Fassade konnte man es nicht ansehen, daß es Bücher beherbergte. Seine Türen trugen im Innern ihres Eichenrahmens Füllungen, die aus Glas bestanden. Und zwar setzten sie sich aus kleinen Butzenscheiben zusammen, welche, jede einzelne, mit einer bleiernen Umfassung von den benachbarten geschieden waren. Die Butzenscheiben aber waren rot und grün und gelb gefärbt und völlig undurchsichtig. So war das Glas an diesen Türen Unfug, und als wolle es Rache für ein Schicksal nehmen, das es so mißbraucht hatte, glänzte es in vielen verdrießlichen Reflexen, welche keinen in seine Nähe luden. Doch wenn mich damals die ungute Luft, die um dies Möbel witterte, betroffen hätte, so wäre sie mir nur ein Anreiz mehr für den Handstreich gewesen, den ich in dieser tauben, hellen und gefährlichen Vormittagsstunde darauf plante. Ich riß die Flügel auf, ertastete den Band, den ich nicht in der Reihe, sondern im Dunkeln hinter ihr zu suchen hatte, erblätterte mir fieberhaft die Seite, auf der ich stehengeblieben war, und ohne mich vom Fleck zu rühren, fing ich an, die Blätter vor der offenen Schranktür überfliegend, die Zeit, bis meine Eltern kamen, auszunutzen. Von dem, was ich las, verstand ich nichts. Jedoch die Schrecken jeder Geisterstimme und jeder Mitternacht und jedes Fluchs steigerten und vollendeten sich durch die Ängste des Ohrs, das jeden Augenblick den Laut des Wohnungsschlüssels und den dumpfen Stoß erwartete, mit welchem der Spazierstock des Vaters draußen in den Ständer fiel. – Es war ein Zeichen der Sonderstellung, die die geistigen Güter im Haus behaupteten, daß dieser Schrank als einziger unter allen offenblieb. Denn zu den anderen gab es keinen Zugang als durch den Schlüsselkorb, der jede Hausfrau in jenen Jahren überall im Haus begleitete, um doch auf Schritt und Tritt von ihr vermißt zu werden. Das Scheppern des Schlüsselhaufens, welchen sie durchwühlte, ging jedem Hausgeschäft voraus; es war das Chaos, das darin aufbegehrte, ehe das Bild der heiligen Ordnung hinter den weitoffenen Schranktüren wie im Grund des Altarschreins zu uns hinübergrüßte. Auch von mir verlangte es Verehrung und selbst Opfer. Nach jedem Weihnachts- und Geburtstagsfest war zu entscheiden, welches der Geschenke dem »neuen Schrank« zu stiften sei, zu dem die Mutter mir den Schlüssel aufbewahrte. Alles Verschlossene blieb länger neu. Doch nicht das Neue zu halten, sondern das Alte zu erneuern lag in meinem Sinn. Das Alte zu erneuern dadurch, daß ich selbst, der Neuling, mir’s zum Meinen machte, war das Werk der Sammlung, die sich mir im Schubfach häufte. Jeder Stein, den ich fand, jede gepflückte Blume und jeder gefangene Schmetterling war mir schon Anfang einer Sammlung, und alles, was ich überhaupt besaß, machte mir eine einzige Sammlung aus. »Aufräumen« hätte einen Bau vernichtet voll stachliger Kastanien, die Morgensterne, Stanniolpapiere, die ein Silberhort, Bauklötze, die Särge, Kakteen, die Totembäume, und Kupferpfennige, die Schilde waren. So wuchs und so vermummte sich die Habe der Kindheit in den Fächern, Läden, Kästen. Und was einst aus dem alten Bauernhaus ins Märchen einging – jene letzte Kammer, die dem Marienkind verboten ist – das ist im Großstadthaus zum Schrank geschrumpft. Der düsterste von allen aber war im Hausstand jener Tage das Büfett. Ja, was ein Speisezimmer und sein dumpfes Mysterium war, ermaß nur der, dem es einmal gelang, das Mißverhältnis der Tür zum breiten, massigen und bis zur Decke aufgegipfelten Büfett sich klarzumachen. Es schien auf seinen Platz im Raume so verbürgte Rechte zu haben wie auf jenen in der Zeit, in die es als Zeuge einer Stammverwandtschaft ragte, die einst in grauer Frühe Immobilien und Mobiliar verbunden haben mochte. Die Reinmachfrau, die alles ringsumher entvölkerte, kam ihm nicht bei. Sie konnte nur die Silberkübel und Terrinen, die Delfter Vasen und Majoliken, die bronzenen Urnen und die Glaspokale, die in seinen Nischen und unter seinen Muschelbaldachinen, auf seinen Terrassen und Estraden, zwischen seinen Portalen und vor seinen Täfelungen standen, abtragen und im Nebenzimmer häufen. Die steile Höh, auf der sie thronten, machte sie jeder praktischen Verwendung fremd. Darum sah das Büfett mit gutem Grund den Tempelbergen ähnlich. Auch konnte es mit Schätzen prunken, wie die Götzen sie gern um sich haben. Dafür war dann der Tag, an dem Gesellschaft war, der rechte. Schon mittags öffnete sich sein Massiv, um mich in seinen Schächten, die mit Samt wie mit graugrünem Moos bezogen waren, den Silberhort des Hauses sehen zu lassen. Was aber dort auch lag, das war nicht zehnfach, nein zwanzig- oder dreißigfach vorhanden. Und wenn ich diese langen, langen Reihen von Mokkalöffeln oder Messerbänkchen, Obstmessern oder Austerngabeln sah, stritt mit der Lust an dieser Fülle Angst, als sähen die, die nun erwartet wurden, einander gleich wie unsere Tischbestecke.
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Berliner Kindheit um neunzehnhundert ist eine Sammlung autobiografischer Skizzen. Die einzelnen Texte verbinden sich nicht zu einer zusammenhängenden Erzählung, sondern geben eher einzelne Bilder und Erinnerungs-Bruchstücke wieder, etwa das Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich oder den Nähkasten seiner Mutter. Dabei versucht Walter Benjamin, sich in die noch unwissende, staunende Haltung des Kindes zurückzuversetzen und dessen Weltsicht in kunstvollen sprachlichen Bildern und Vergleichen wiederzugeben.