Natürlich verfliegt die Zeit, das weiß jeder Mensch. Früher verflog sie einfach so, die Sonne ging irgendwann auf und wieder unter, dazwischen lag der Tag, und in dieser Zeit konnte das Leben passieren. Wenn es dunkel war, wurde geschlafen oder körperliche Liebe erfüllte die Luft. Irgendwann erfanden die Menschen zwei grundlegende Dinge, die alles verändern sollten: Zunächst das künstliche Licht (in tausenden von Büchern bereits thematisiert, vor allem aber in der Zeit des Expressionismus in Gedichten verherrlicht), dann die Taktung der Zeit mit Hilfe von Uhren (auch das wahrscheinlich tausendfach besprochen, aber wesentlich seltener in Gedichten thematisiert). Die Menschen schlafen heute wahrscheinlich nicht mehr so lange im Winter und haben dafür mehr Depressionen, nicht mehr so kurz im Sommer und haben dafür ebenfalls mehr Depressionen. Man steht auf, wenn die Uhr es vorgibt, wenn die künstliche, die digitale oder mechanische Taktung der biologischen ein Ende setzt.
Wahrscheinlich waren das nicht genau Herr Nipps Gedanken, als er sich rückenschmerzengeplagt aufrichtete, sich aus dem Bett quälte in Richtung des Waschbeckens, nicht um sich erstmal kaltes Wasser über den Kopf laufen zu lassen, wie er das sonst zu tun pflegte, sondern um einen kräftigen Schluck zu trinken, denn die am Bett stehende Wasserflasche war leer. Irgendwelche Gedanken dieser Art mussten es wohl aber doch sein, denn zwischendurch drangen fast technisch anmutend die beiden Silben Tick und Tack über seine spröden Lippen. Er musste daran denken, dass seine Uhr noch beim Uhrmachermeister lag und dort gereinigt werden sollte. Ganz nebenbei griff er in seine Zettelkiste, wusste eigentlich schon, was so ungefähr auf dem Blatt stehen würde. Vielleicht eine wunderbare Floskel von Herrn Schopenhauer. Dieses Mal bescherte sie ihm eine winzige Schriftrolle, auf die jemand, das auch noch mit verschiedenen Farben, silber abgesetzt auf Vorsatzpapier, “Gewöhnliche Menschen denken nur daran, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht sie zu nutzen.” geschrieben hatte. Er kochte sich also einen Kaffee, schnitt eine Khaki auf, sah auch dort eine Uhr und würde diesen Tag nutzen; carpe diem. Erstmal mit einem ausgiebigen Frühstück.
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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, Edition Das Labor 2011
Dieser short-short ist eine Vorschau auf eine Reihe, die KUNO anläßlich des Erscheinens von Die Angst perfekter Schwiegersöhne präsentieren wird. Im kommenden Jahr erwartet die Leserschaft ein Zyklus, der nicht in diesem Buch zu finden ist. Das Taschenbuch ist schlüssigerweise kein Künstlerbuch. Was aber, wenn doch ein Originalholzschnitt auf dem Deckblatt der Vorzugsausgabe zu finden sind?
Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus ab 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.
Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421