Dä Stadtstrünzer, eine rheinische Legende

 

Der rheinische Dialekt ist voller seltsamer Worte mit einer putzigen Punktierung. Das Leben der Rheinländer beginnt oft als Strünzer Pänz, womit die jungen Menschen bereits im Vorschulalter die punktierten Buchstaben kennenlernen. Wenn die Kinder eingeschult werden vollzieht sich der nächste Bewusstseinswandel, sie werden zum i-Dötzchen und lernen neben den Buchstaben ü und ä auch das ö kennen. Das i in diesem Wort hat einen Punkt, das ö hat gleich zwei Pünktchen, aber die sind den Pänz bereits aus den Kindergarten vertraut.

Aber nicht Pünktchen, sondern die überlieferten Legenden sind es, die diesen Landstrich ausmachen. Das Rheinland ist ein Flickenteppich aus Geschichten, ein Geflecht aus Erinnerungen, Gefühlen, sowie Schicksalen. Eine Legende, die im Rheintal von Generation zu Generation weitergegeben wird, erzählt vom Gastwirt Jupp aus dem Schwedenkrieg, den die Stadtväter von Linz zu Beginn der Belagerung um einen Ausweg gefragt haben. Der Wirt hatte in seiner Schankstube diverse Fabeln vernommen. Nach einer kurzen Überlegung schlug er vor, einige Gruppen mutiger Männer sollten versuchen, die Schweden durch nächtliche Feuerbrände und Lärmschlagen mit Eisentöpfen rings um ihr Lager in Angst vor einer unerwarteten Übermacht der Verteidiger zu versetzen.

Statt die bunte Stadt am Rhein weiterhin zu belagern, sollen sie daraufhin in Panik geflohen und nie wieder gekommen sein. Anstelle eines Schwedentrunks können die Linzer weiterhin einen lekker Rieslung genießen. Dä Jupp gilt seither als der bekanntester Strünzer und ist als Lokalheld ein herzlicher, fast liebevoller Zeitgenosse in Erinnerung geblieben, der zu Übertreibungen im Schwatzen und beim Feiern neigt.

Die Strünzer praktizieren täglich die Sagbarkeit des Unsäglichen mit dem rheinischen Dialektrick, demzufolge der These: Von nix kütt nix die Antithese: M’r moss och jönne könne folgt. Für jede neue These lassen sich selbstverständlich Belege finden, man muss nur lange und möglichst einseitig suchen, je nach Tagesform variiert deshalb die Synthese, meist einigt man sich auf den kategorische Komparativ: Et hätt noh emmer joot jejange, wobei die Wahrheit von dieser Population längst gegen Klarheit getauscht worden ist. Die rheinische Sprache erscheint transitiv: sie spricht die Dinge.

Regelmäßig werden die Linzer auch noch heute in ihrem Alltag an dä Jupp erinnert, wenn sie am Strünzerbrunnen am Linzer Burgplatz vorbeigehen. Auch der Strünzerkeller im Haus Bucheneck lädt die Besucher ein, sich mit den Dönekes von diesem Rheinischen Original und seinen zahlreichen Nachfolgern auseinanderzusetzen. Tagtäglich versuchen die Strünzer in demütiger Ergriffenheit ein Ebenbild der Existenz zu werden und an große Zeiten anzuknüpfen. Hier ist alles Blödsinn, alles wahrscheinlich, alle auf der Suche, weil keine Legenden nachprüfbar sind. Das Rheinland hat eine fast schon nervende Gelassenheit, es ist eine selbstbewusste, auf sich bezogene Region, die mit sich weitgehend im Reinen ist, ein magisches Traumland für all jene, die ein unbestimmt Anderes suchen und dabei in einer ausgewogenen Mischung aus Aufgeschlossenheit und Dünkel auf eine befestigte Wirklichkeit nicht verzichten wollen.

Zwischen dem i-Dötzchen und dem Strünzer spannt sich im Rheinland oft ein ganzen Leben. Erst wenn et Läwe im Rheinland erzählt wird, wird das Erlebte zum Leben. Indem et Läwe erzählbar geworden ist, wird es von seiner blossen Ereignishaftigkeit befreit. Der letzte Punkt, der gesetzt wird, befindet sich am Schluss des Satzes.

 

 

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Rheintor, Linz – Anno Domini 2011, Edition Das Labor 2011. – Limitierte und handsignierte Auflage von 100 Exemplaren. – Dem Exemplar 1 – 50 liegt ein Holzschnitt von Haimo Hieronymus bei.

Der Rheintaler, Urheber: Martin Vreden und Asia Rauf. Die Freigabe zur Nutzung dieses Werks wurde im System des Wikimedia-VRT archiviert; dort kann die Konversation von Nutzern mit VRTS-Zugang eingesehen werden.

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