Meine Stadt ist am Wasser gebaut. Sie liegt zwischen zwei Flüssen, die sich treffen. Nach einem langen Weg finden sie hier zu– und ineinander, vermischen ihre Wasser, werden eins. In dieser Stadt zwischen den Flüssen wurde ich geboren. Das ist schon eine Weile her. Seitdem hat sie sich verändert. Sie wurde größer, wuchs über die Felder, die es früher an den Ufern gab. Auch ich bin gewachsen, ein Stück in den Himmel hinein, wie eine Ähre. Mit jedem Atemzug habe ich Stadtluft erobert, mich Schritt für Schritt mit Straßen und Gassen bekannt gemacht. Als ich älter wurde, haben sich meine Wege gedehnt. Über das Wohnviertel hinaus, bis hin zu den Flüssen. Diese werden manchmal neugierig und verlassen ihr Bett. Sie stehen auf, ganz langsam, wie nach einem langen Schlaf, übersteigen Mauern und Böschungen. Dahinter haben sie es leicht, sich in den Straßen zu verschütten. Dann werden aus Holzbrettern Stege gebaut, über die Menschen gehen, und Boote schwimmen durch die Gassen. Aus den Fenstern schauen alte Menschen, warten auf Brot, Butter und Milch. Körbe an Seilen schwingen vor Fassaden. Wenn sich die Flüsse in meiner Stadt umsehen, haben sie es nicht leicht, wieder in ihr Bett zu finden. Sie kennen die Wege und Plätze nicht so wie ich. Sie sind seltener dort. Ihre Erinnerung reicht dafür aber weiter zurück als meine. So weit, dass sie verwirrt sind, denn meine Stadt hat sich für sie noch mehr verändert als für mich. Die Flüsse erinnern eine Zeit, in der es das Labyrinth aus Häuserschluchten noch nicht gab. Damals konnten sie sich den Weg leicht merken. Heute dauert es einige Tage, bis das Wasser sich orientiert, woher es kam, wohin es gehört: Es gehört ins Bett, in das es fällt. Wenn die Straßen und Keller getrocknet sind, halten die Flüsse als Wiedergutmachung ihre Ufer hin. Von dort sieht man weiße und schwarze Schiffe auf dem Wasser schwimmen. Auf den Weißen winken Menschen. Die Schwarzen schleppen sich müde dahin. Sie bewegen sich langsam. So langsam, dass man selbst langsam wird. Das flatterige Blut entspannt. Langsam kommen die Schiffe an, langsam gleiten sie vorüber und langsam werden sie kleiner und verschwinden hinter der Biegung. Auf dem Wasser hat man Zeit. Am Ufer nur dann, wenn man sie mitbringt. Ich habe gerne welche in den Taschen. Sobald ich etwas Zeit gespart habe, die ich verschwenden kann, setze ich mich auf eine Bank, packe eine gute Stunde aus und lasse die Gedanken mit der Strömung treiben. Flussabwärts liegt die Zukunft. Dort würde ich gerne am Wasser bauen, weit hinter den steilen Weinhängen, wo Meere sich weiten. Die Täler der beiden Flüsse sind eng. Man stößt sich schnell den Blick an einer Felskante wund, wenn man zu den Wolken abschweift. Das Meer hat keine schroffen Kanten. Es ist weich und flach bis zum Horizont. Es begegnet mir mit Weite, damit auch ich weit werde. Dort soll mein Haus stehen, mit hohen Räumen, hohen Fenstern, hohen Bäumen. Im Garten werde ich leicht, wenn ich Wellen oder Blätter rauschen höre und über das geräumige Wasser sehe.
In meiner Stadt, auf der Bank am Ufer, ist der mächtige Fluss meine Wasserader. Sein Strömen entführt mich zum Meer. Er ist breit, trägt Lasten auf den Schultern. Geduldig läßt er sich auch mit meinen Gedanken beladen. Sie haben auf einem der schwarzen Schiffe angeheuert und fahren stromabwärts, weit hinunter, wo das Meer auf mich wartet. Irgendwann werde ich dort im Garten vor meinem Haus sitzen, den Wellen zuhören und so lange an die Flüsse meiner Stadt denken, bis ich sie wiedersehen möchte, um mich daran zu erinnern, woher ich komme. Dann nehme ich den Blick vom Meer, verlasse den Garten, die Bäume und fahre stromaufwärts in die Vergangenheit. Die Bank am Ufer wartet schon. Mir ist, als hätte ich lange geschlafen.
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Heimspiel von Klaus Krumscheid, mit Andreas Noga
Rheintor, Linz – Anno Domini 2011, Edition Das Labor 2011. – Limitierte und handsignierte Auflage von 100 Exemplaren. – Dem Exemplar 1 – 50 liegt ein Holzschnitt von Haimo Hieronymus bei.
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