Kleine Geschichte um Almuts Gedichte
Die beiden Männer, die aus dem Dickicht hervorgekommen sind,
nach kurzer Zeit sind sie im Dickicht wieder verschwunden.
Jürgen Becker · Schnee in den Ardennen
Ich schreibe das Wörtchen ›wunderbar‹, das sogar klingen läßt, was ›eigentlich‹ gar nicht zusammenklingen kann: der weiße Nebel wunderbar, nie nieder, ohne vorher zu überlegen, ob ich das Wort, allen Bedenken zum Trotz, doch noch einmal verwende. Stets unvermutet höre ich während des inneren Disputs Bensch und Kraus das Wort wunderbar murmeln, und die Skrupel werden vollkommen eingenebelt, für den Augenblick jedenfalls. Und siehe da, unverhofft findet sich das schöne Wort ›wunderbar‹ auch nach 2000 noch in hochmodernen Gedichtkontexten: Verliebt, so / heißt es, ist man immer wunderbar, lese ich in Matthias Göritz‘ Opel Ascona im Jahrbuch der Lyrik 2011. Ich lasse die Katze stracks aus dem Sack: Während ich die Gedichte in Ulrike Almut Sandigs Gedichtbuch Dickicht (Anfang 2011 bei Schöffling & Co. in Frankfurt am Main erschienen) lese, denke ich von Beginn an (auf fast jeder Seite, obstinat) das Wort: wunderbar.
Im Dickicht von Almuts Wortwald – auf keiner gültigen Karte verzeichnet – sehe, höre, fühle, schmecke, rieche ich: Äste · Wind · Äpfel · Polarlicht · Scherenschnitte · sperrangelweite · Himmel · Blauglockenbäume · Flurlicht · Weißtannen · Gedichte · Nüsse · Schaumgras · Möwen · Gänse · Monde · Sonnen · Putzkolonnen · Eisengeländer · Marder · Haareverknoter · Brustbeine · Schnee · Windfelder · Büchsenlicht · Knochen · Nebel · Tiere · Eis · Laternenalleen · Windlöcher · Wasser · Scheinwerferlicht · Schattenverstecker · Herzschrittmacher · Vogelbeerbäume. Zu guter Letzt habe ich mich zwischen den Wurzeln der Wörter schrecklich verirrt, und, nein, ich habe den Rückweg nicht markiert. – – –
Die kleine Geschichte um Almuts Gedichte beginnt am 24. Dezember 2007, als ich (wie das Tagebuch verrät, dessen Eintrag die lebendige Erinnerung bestätigt) mit beständiger Begeisterung das Lyrikband Streumen lese. – Ich springe an den Bodensee, zurück zum Nachmittag des 20. November 2010. Am 6. Dezember 2010 notiere ich aus der Erinnerung fürs Konstanzer Tagebuch:
Von wegen ausschlafen nach einer langen Nacht: Um 8 Uhr sitze ich mit Andrea Heuser und Karin Fellner, die beide schon wieder abreisen müssen, am mehr als reichlich gedeckten Frühstückstisch, und wir lassen den vergangenen Abend Revue passieren.
Um halb zehn steht Christine Otto mit einem jaguarähnlichen Auto vor der Tür, um uns zum Bodman Literaturhaus (hier weilt Ulrike Almut Sandig als Stipendiatin) im schweizerischen Gottlieben zu kutschieren, wo wir mit Thilo Krause, Swantje Lichtenstein, Marion Poschmann, Ulrike Almut Sandig und Ulf Stolterfoht als Leiter des Workshops (sonntags stoßen Rolf und Liz Hermann sowie Tom Schulz dazu) Probleme des Übersetzens aus dem Englischen wälzen. Der an beiden Tagen jeweils von 10 bis 13 Uhr intensiv, auf der Basis der Aufsätze von Hans-Jost Frey, Übersetzen / Schleiermachers Übersetzungstheorie und Peter Waterhouse, Halbe Sachen geradezu leidenschaftlich geführte Diskurs, bei dem sich nicht nur Swantje Lichtenstein als temperamentvolle Nahkämpferin erweist, die mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln rhetorischer Redseligkeit einen Treffer nach dem anderen für sich zu verbuchen sucht, führt abschließend zur direkten Übersetzungsarbeit an zwei Beispielen aus der amerikanischen Lyrik, die zeigt, daß viele Wege nach New York und anderswohin führen. Prädikat: wertvoll.
Nach dem Mittagessen im nahegelegenen Restaurant jagen wir zurück ins Hotel, um kurze Zeit später schon wieder aufzubrechen, diesmal zur Meersburg, wohin wir – Matthias Kehle, Swantje Lichtenstein, Christine Otto, Ron Winkler, der mich in ein Gespräch über Lyrikleser verwickelt – mit der Fähre fahren, wobei wir bei blauem Himmel, in dem, wie gerufen, ein Luftschiff schwimmt, ein verschneites Alpenpanorama (Ruhig glänzen indes die silbernen Höhen darüber, / voll mit Rosen ist schon droben der leuchtende Schnee, lese ich in Friedrich Hölderlins Gedicht Heimkunft) geschenkt bekommen, das so atemberaubend ist wie die plötzlich gefühlte Extremkälte auf dem See.
Warm ums Herz wird mir schnell bei Ulrike Almut Sandigs Lesung im Burgcafé der Meersburg (wo ich naturgemäß Annette von Droste-Hülshoffs Verse aus dem Gemäuer heraus zu hören vermeine): Almut liest aus dem Erzählband Flamingos sowie einem noch im Entstehen begriffenen Lyrikmanuskript auf eine Weise, daß ich im bis auf den letzten Platz gefüllten Café nur einen Teelöffel fallen (bzw. ein Handy klingeln) höre. Toll, wie die Autorin sich in den von ihr erfundenen kleinen Helden der Geschichte hineinversetzt, ihn stimmlich kongenial nachempfindet. Leise, aber sehr klar trägt Ulrike Almut Sandig die neuen Gedichte vor, die die Qualität des von mir mit so viel Lust gelesenen Lyrikbands Streumen vielleicht noch übertreffen, die Lektüre im nächsten Jahr wird es zeigen.
Nun ist der 24. Februar 2011, in der Nacht hat’s geschneit, und ich unterbreche, nachdem ich das Gedicht schwere tiere gelesen habe – wunderbar schlichte Sätze: eben noch Radio gehört. du schaust geradeaus. der Motor macht leise Geräusche –, einmal die (wie Ulrich Koch es hinsichtlich des gelungenen Gedichts formuliert) „auf unwiderstehlich sanfte Art und Weise traurig machende“ Lektüre der mild, ruhig, sanft, zart klingenden Wörter, Verse und Strophen, deren Grundierung, Tiefenstruktur naturgemäß immer wieder auch ganz anders ist als ›mild‹, ›ruhig‹, ›sanft‹ und ›zart‹, um dem ›vermaledeiten‹ Wort, das als freche Flipperkugel durch den Kopf springt, nachzugeben, indem ich es niederschreibe, so hat es den Willen und ich die Ruhe, na wunderbar (von wegen).
Nun höre ich in ›wunderbar‹ nicht nur Wunderbares, das Wunderwort ist auch Wundwort (das wunderbar verwundbar scheint), Wundewort, etymologisch betrachtet schlechterdings klarer, barer Unfug, obwohl – ein einziger Buchstabe bloß trennt die althochdeutschen Wurzeln: Wunde leitet sich von wunta (Schlag) ab, während Wunder von wuntar (Verwunderung) kommt. Der nüchternen Erkenntnis zum Trotz empfinde ich ›wunderbar‹ aus tiefer gelagerten Gründen als nie bar allen Schreckens, wen wundert’s. So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost verlachen, /Weil unsere Augen sie nicht sehn.
Gedichte sprechen. Gedichte sprechen für sich. Ich lese leise, lese laut, bin ganz: Ohr –
erinnern sich Geister? welche tun’s, welche tun’s
nicht? und wenn sie’s denn tun, dann tun sie’s
mit welchem Organ? Mit dem Hirn, mit den
Knochen, den Augen oder doch mit dem Ohr?
erinnern sie sich an den Graswald hinter dem Hof?
wie krachten die Stacheln der Rosen beim Wachsen
wie knirschte der Birnbaum, wie klang die Magnolie
mit ihren Blütenturbinen am Zweig und Brigaden
von Brummern darin, wie schnurrten die Flieger
in der irr blauen Schüssel des Himmels herum
– und erinnert sich wer an das Surren der Geister
in den Kronen der Bäume, im Dickicht der Luft?
Ich lese, ich lese, die Wörter surren wie Geister (in die Ecke Besen, Besen), zwischen den Birken flirrte die Hitze, na, dann Gute Nacht, denk ich, lese, lese, bin am Ende alles andre als von allen guten Geistern verlassen, klapp Dickicht zu (Gedichte sind immer noch hörbar), frag mich, tick ich, rausche, in die Tasten hauend, bushwhacking, Wortblock bauend, augenblicklich in fiesen Wörterwirbelwuselwind, bin jählings, plötzlich, unversehens im Dickicht meiner eigenen Brust –
ich lach mir n ast wird zu werk ballast barriere baumstop barrikade behindertlastetschränkt blockiert bald bollwerk bald bremse im busch buschen herumfuhrbuschwerken im dschungel eingefriedet einspruchwandzäunung wird wort engpaß er schwert fuß fessel im geästgebüsch spürt gegendruckwirkung gehölz wird zu gesträuchgestrüpp ist doch gezweig bloß hinter der lichtung mehr sicht die grasstepp die grenz wo der hag letztes handikap hinter der heck der hemmklotz die hemmnis der der hemmschuh klemmt in der hemmung wird hindernis hinderungsgrund wie hürde nehmen jetzt ne dicke klippe riskieren: komplikation vielviel krachaufwand im niederholz im niederwald denkste denn denkste denn du du du du wanze reisig in der savanne schranke über staude steige steppe stock und steinstraßensperre krauch durchs strauchwerk unterholz urwald verhaumichblau verschlagmichrot widerstand in der wildnis zaun zweig zweig zweig schweig in seinen armen das kind war tot
***
Dickicht, Gedichte von Ulrike Almut Sandig. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2011
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.