Gedichte lesen

Memory and desire

Viele Menschen (nicht alle) haben ein sechstes Sinnesorgan. Ein Sinnesorgan für Kunst, das durch Kunst erregt wird. Es ist höher spezialisiert als die anderen fünf, bei den einen auf die Erregbarkeit durch Musik, bei anderen durch das Bild. Beim Leser von Gedichten ist das Kunstorgan auf Sprache spezialisiert. Der eine bekommt eine Gänsehaut (curtis anserina), wenn er zum hundertstenmal Take Five auflegt, der andere jedes Mal, wenn er die erste Strophe von The Waste Land liest: April is the cruellest month, breeding / Lilacs out of the dead land, mixing / Memory and desire, stirring / Dull roots with spring rain …

 Androsteron

Dabei sind die Wirkfaktoren von Musik und gebundener Sprache im Prinzip die gleichen: Klang und Rhythmus die emotionalen, Überraschung und Vergleich die kognitiven. Jeder, dem das Lesen von Gedichten Vergnügen bereitet, wird die Beobachtung gemacht haben, dass er auch beim stummen Lesen das Gedicht ›hört‹, die Melodielinien, den Rhythmus. Bei der Rezeption von Musik, so haben Neurophysiologen festgestellt, steigt das Androsteron-Niveau bei Frauen, während es bei Männern sinkt, und vermehrt wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, das die Rückmeldung von Erinnerungen fördert (das und ähnliches kann man aus dem interessanten Buch von Raoul Schrott und Arthur Jacobs über Gehirn und Gedicht von 2011 lernen).

 Nicht abschließbar

Das stärkste musikalische Werkzeug der Lyrik, der regelmäßige Endreim, wird im zeitgenössischen Gedicht relativ wenig verwendet. Im Jahrbuch der Lyrik 2011 stehen 161 Gedichte, 4 davon sind endgereimt. Der weitgehende Verzicht auf den Endreim ist vielleicht einer der Gründe für die schwindende Popularität von Gedichten. Aber damit muss die Gattung leben. Selbst einer der großen Reimer, Gottfried Benn, hat bemerkt: Ich bin seit einiger Zeit etwas gegen den Reim eingenommen, er erscheint mir zu edel, zu gläubig, zu religiös, möchte ich sagen, er schließt Dinge ab, die gar nicht abschließbar sind. In der Tat bietet der freie Vers mehr Möglichkeiten als das gereimte Gedicht. Die allseits heute so geschätzte ›Lakonie‹ (das sicherlich probateste Mittel gegen das mehrheitlich verhasste ›Pathos‹) ist im freien Vers viel leichter zu realisieren als im streng gereimten Gedicht. Andererseits sollte man gewiss nicht vergessen, dass es auch heute noch superbe Reimer gibt, und auch nicht, dass manche kenntnisreiche Kritik am Umgang mit dem freien Vers sicherlich berechtigt ist.

 Drive und Droge – warum nicht

Silbenzahl, Versfuß und der Modus der Aufeinanderfolge ein- oder mehrsilbiger Wörter sind die wesentlichen Mittel zur Erzeugung bestimmter Rhythmen im Vers, der den ›Drive‹ eines Jazzstücks oder den traurig-schleppenden Gang von Valse Triste haben kann, je nachdem. Es ist vor allem der Rhythmus eines Gedichts, der verführt oder zwingt, es wieder und wieder zu lesen. Das Gedicht als Droge – warum nicht.

 Das ist neu

Nun beruht der Genuss der Rezeption, des Essens (Lydia Daher) eines Gedichts nicht allein auf den musikalischen Qualitäten (Klang und Rhythmus), sondern auch auf dem, was es dem Verstand vermittelt. Was ich beim ersten Lesen eines Gedichts erwarte, sind auch intellektuelle Überraschungen. Wenn der Vers vorbeigezogen ist, muss ich sagen können: Das ist neu. Das habe ich nicht erwartet. Das gilt natürlich ganz besonders für Metaphern, die – wie Krolow meint – Fleisch und Sensorium des Gedichts sind. Metaphern im Gedicht werden meist durch Zusammenbringen/Kurzschließen von Begriffen aus unterschiedlichen Seinswelten oder -weisen generiert. Doch kann die Metapher für den Leser des Gedichts nur ›funktionieren‹, wenn für ihn zwar die Verknüpfung der Begriffe neu und unerwartet ist, er aber die Begriffe selbst kennt. Nun ist das mit dem ›Kennen‹ natürlich so eine Sache, sie hängt von den ›Kenntnissen‹ des Lesers ab, ihrer Vielfalt, mit anderen Worten: von seiner ›Bildung‹. Wird das Vergnügen an Gedichten damit zu einem Privileg? Das sollte es nicht. Die Rezeption von Gedichten sollte keine Prüfung sein, die nur ein mit mindestens drei abgeschlossenen Studiengängen gerüsteter Vollbildungsbürger bestehen kann.

 Stimmen

Ein Gedicht muss, ich kann es nicht anders ausdrücken, stimmen, sagt Cees Nooteboom, doch die Kriterien dafür sind, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen, ganz persönliche.

   

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Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander veröffentlichte seit Mitte der 1990er-Jahre Gedichte und Aphorismen. Seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte, die u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend → Lesen Sie auch seinen Essay über Lyrik.

– Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.