Am Wochenende hatte man abgesprochen, dass die Weinreben am Haus zu beschneiden seien, denn die ersten Blätterknospen schoben sich schon heraus. Bräunliches Grün, behaart und gebün- delt, dabei fein und empfindlich anmutend. Wolff und Blossfeld hätten daran ihre hellste Freude gehabt, hätten die sich entwickelnden Knospen auf grauem oder weißem Karton fotografiert, schlichtes Arrangement, sie für die Zukunft festgehalten. Als Zeichenvorlage, als Pflanzenstudie für Architekten, Designer und Künstler. Nicht im Gedanken eigene Kunstwerke zu schaffen. Fotografie, als Kunsthandwerk. Aber völlig vereinnahmt von der eigenen dokumentarisch-ästhetischen Arbeit. Pflanzenbetrachtungen, in sich geschlossene Bewunderung der Natur. Kleine Jugendstilarchitekturen oder Vorlagen für diese, ausbaufähig zu den unglaublich monströsen Wolkenkratzern Amerikas im frühen zwanzigsten Jahrhundert, Schachtelhalmfantasien. Vielleicht eben auch Weinreben. Auch Gaudi musste wohl diese Fotos vor Augen gehabt haben, konnte man meinen, wenn man in Barcelona seine Gebäude sah. Anleihen oder zufällige Ähnlichkeiten? Aber das war nicht vorstellbar, völlig abstrus. Diese gemeinsame Bezugnahme auf die Natur musste einfach ein Phänomen der Zeit sein. Das musste in der Luft gelegen haben, wenn die Industrie alle Natur in den Städten sichtbar vernichtet, dann muss man in die Natur flüchten, und sei es in eine erfundene und überzüchtete Natur. Realitätsflucht und Scheinweltverhalten.
Neben dem Haus, auf der Garage und am Balkon der Mieter sah man noch längere Schösslinge vom letzten Jahr. Vereinbart wurde, dass diese im Laufe der Woche entfernt würden. Er hatte es fest versprochen und war davon ausgegangen, dass die Woche erst am Samstag zu Ende sein würde. Sechs weitere Tage also.
Als Herr Nipp am Montagmorgen kurz mit dem Fahrrad von der Arbeit kam, noch fehlende (vergessene) Unterlagen zu holen, stand die nicht mehr ganz trittsichere Frau Beiringshofen mit der Rosenschere am Weinstock (gegen halb neun Uhr morgens) und schnitt unter Keuchen einige Triebe ab. Mit vorwurfsvollem Blick klagte sie, als sie ihn sah:
„Sie halten auch keine Vereinbarung ein, Sie hätten mir auch mal helfen können.“
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Die Angst perfekter Schwiegersöhne, von Herrn Nipp, Edition Das Labor 2011
Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. – Ein Sammlerstück ist die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421