oder
der kosmos in der küche
zur lyrik von birgitt lieberwirth
Ich will die Dinge durch / meinen Geist beleuchten / und den Widerschein auf den fremden Geist fallen lassen.
Charles Baudelaire
der lebensweg der birgitt lieberwirth verlief, vordergründig betrachtet, zunächst ziemlich landläufig: pädagogikstudium; heirat; die geburt von zwei kindern; später die scheidung; die monotone büroarbeit in einer filmverleihagentur. und enthält andererseits manches ungewöhnliche: den frühen tod ihres vaters; das bekenntnis zum scheitern im beruf, für die lehrerin blieb der eigene anspruch, die inspiration des einzelnen kindes und jugendlichen der gruppenpädagogik vorzuziehen, praktisch uneinlösbar; das austragen, und nicht einebnen, seelischer konflikte, das gleichzeitige öffnen und schließen der wunden bei vollstem pulsierendem bewußtsein bis an die grenzen lebbaren schmerzes, auch wenn sich dieser zuletzt nur noch therapeutisch lindern läßt; die invalidität mit sechsunddreißig. das alles sei eingangs erwähnt. denn es bezeichnet phasen und momente der biographie mit andauernden existentiellen folgen und daher bestimmendem einfluß auf die gedichte, für deren verständnis entscheidend sein wird, zu ergründen, wie ihre erfahrungen und intentionen zugleich verinnerlicht, komprimiert, vertieft und ausgesprochen werden.
Triptychon
2
Balance
Ich bin aber allein
Auf dem Seil, niemand nimmt mir die Last
Meines Körpers, setzt mir den Fuß vorsichtig
Auf, keiner trägt mir den Kopf fort, den Gedanken
Aus der Stirn, die Augen fallen mir, hundertmal
Komme ich auf, in meinem Traum
Brech ich das Rückgrat, ohne Netz
Splittert der Schrei neben den Beifall, wenn ich stürz
Stürz ich
diese lyrik ist, zunächst einmal, geprägt von einem tonfall der unbedingtheit und motiven der körperlichkeit, wobei vor allem die affinität zu auge, mund, hand und blut auffällt. »Um die Seele eines Dichters zu durchschauen, muß man in seinem Werk diejenigen Wörter aufsuchen, die am häufigsten vorkommen. Das Wort verrät, wovon er besessen ist.« schrieb baudelaire, »Es gibt nur einen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper.« novalis. »Das Gedächtnis des Körpers freilegen« nennt birgitt lieberwirth eine ihrer absichten. dies meint, die eigene erfahrung, bis zurück zum erleben der kindheit, das die seelische und ideelle konstitution maßgebend prägt, im schildern und deuten von körperlichem nachzuvollziehen. »wie ich geworden bin, lieg ich / Mir auf dem Handteller« heißt es in >Triptychon 1<. notwendig entsteht eine metaphorik des anatomischen als mittel und medium der selbstanalyse. kinder, die im frühesten alter beine, füße, arme und hände wie gegenstände und dinge als körperteile betrachten, verfremden, indem sie ein ganzheitliches gespür haben, noch unmittelbar natürlich, ohne es zu wissen, erwachsene solcherart meist bloß in augenblicken jähen leidens, weitgreifender freude oder ausgelebter phantasie. plutarch beschrieb, wie seine tochter, bevor sie zweijährig starb, ihre amme dazu bewegen wollte, die brust auch unbelebten gegenständen und spielsachen zu geben, damit diese genauso mit milch genährt werden wie sie selbst.
friederike mayröcker nannte das schreiben eine art liebesakt. jannis ritsos meinte, gedichte schreiben sei wie eine ewige geburt, also schmerzhaft und lebensspendend zugleich, wenn das innerste durch die haut stößt und nach außen gepreßt werden muß, nicht zuletzt weil sich nur so das unter überformten, verhärteten und deformierten schichten, den narben und grinden, lagernde und geborgene, und notfalls eingefrorene, potential der erinnerung fortgesetzt freilegen läßt. und tatsächlich muß sich ja der mensch, und zumal der kreative, im leben selbst gebären.
zum bevorzugten motivischen inventar bei birgitt lieberwirth gehören zudem möbel, küchengeräte und speisen, die elementarsten realien des alltags, nichts schillerndes mithin, denkt man. wer indes genauer hinschaut, wird erkennen, daß hier gerade das restriktive der lebenssituation herausfordert, das dasein ständig neu nach seinem sinn zu befragen. dabei entdeckt und erspürt die autorin, mitunter schmerzlich nahe, die sinnlich erfahrbare substanz der spröden dingwelt, die sie umgibt, häufig als ersatz für ein fehlendes du, und holt monotones und banales, das sonst bedrückt und ermüdet, aus dem dunkel der anonymität ans licht.
die bewußt erlebte enge transzendiert das denken und empfinden. auch räumliche wahrnehmungen formen reale erfahrungen nach, etwa ein kreisen und sich winden in spiralen wie in endlosen schlingen, die den kopf, der sich erhebt, sofort wieder auffangen und ihn, meist ohne äußere gewalt, als sei man vom heben seines kopfes unversehens selbst beschämt, hinabdrücken, so daß man sein enges umfeld konzentriert zu schauen beginnt und zuletzt phantastisch verfremdet erlebt, während die zirkulation, die beschirmt und bedrängt, beruhigt und lähmt, unverändert weiter besteht und nur weniges die entladungen ahnen läßt, die kommen müssen, doch erst irgendwann. »Wir phantasieren schon vor Atemnot.« hatte wladimir wyssozki gesungen. »Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.« schrieb walter benjamin. derart entstehen bilder und gedankenkombinationen, die denen des traums gleichen und ins imaginäre, wunderbare, zauberische und abgründige, nur im jähen aufscheinen und anklingen wahrnehmbare hineinleuchten. dies greift dann zurück bis in mythische erlebniswelten und zeiten, wo visionen als orakel ernst genommen wurden.
Metamorphose
Süß ist bitter, bitter ist süß. Der Fluß geht
Gegen die Strömung, nachts bricht Sonne
Durch, vom Himmel fällt
Der Mond, die rechte Hand
Ist die linke, gib mir das Messer, die Gabel
Für die Suppe, das Brot trink ich, esse
Den Wein, welche Nacht heute Mittag, die Amsel
Schwimmt über den See
die umkehrungen und paradoxien im gedicht >Metamorphose< heben gegensätze auf, erweitern die wirklichkeit, oder deren wahrnehmung, und haben zugleich etwas utopisches. ähnliche metaphern findet man bei arthur rimbaud. indem die autorin ihr umfeld subjektiv durchdringt, kann sie freier damit umgehen und im aneignen und verzaubern der dinge ihr ich magisch einbinden und bergen und derart autonom und unantastbar machen. die verfremdenden chiffren lösen die verinnerlichten, also eingefleischten, normierungen. staunend erfährt sich die sehende wieder unschuldig und arglos, in augenblicken, die das imaginierte allerdings mit der angst einhergehen lassen, die dinge könnten verschwinden, sobald man sie selbst nicht mehr sieht. das eigenleben der gegenstände und phänomene kommt ins bild und füllt das vakuum der räume, die höhlen der erstarrenden zeit, gerät ins bewegen, zerfällt und fügt sich neu, wird vorzeichen. vertrautes erscheint, endlich und demonstrativ, anders als gewohnt und anerzogen und somit außerhalb des eingeübten modus, nicht mehr reduziert auf abstrakte entweder/oder-raster, sondern mit seinen ambivalenzen, fließenden übergängen und symbiosen und erst darin universell. die vertauschungen in >Metamorphose< deuten aber auch verluste von realen lebenswelten an.
birgitt lieberwirth weiht die dinge durch ihre konzentration aufs intensiv geschaute und erhörte detail. in >Geräusche< schreibt sie: »Als ich leise war, begann das Wasser / Zu sprechen im Topf.«, und: »Begannen die Dinge / laut zu werden, die Wände riefen / Die Musik zurück.« sie hat die dinge, und diese haben sie, entweder ganz oder garnicht, bis zur letzten konsequenz. »Zwischen Tisch und Stuhl, spiel ich mich / Immerfort aus« heißt es in >Triptychon 1<. sie beschwört gegenstände wie menschen und vermenschlicht sich so, jenseits funktional reduzierter wahrnehmungsweisen der »nutzbringenden Mitreißbarkeit«, die äußere lebenswelt. für sie besitzen die dinge, und seien sie noch so zweckgebunden, allesamt eine aura, die nicht ornamental oder abbild von etwas, sondern unmittelbar sinnlicher wirklichkeitsausdruck eines leuchtens aus dem innen ist, das magisch wirkt. auf diese weise wird ihr die küche zum kosmos.
bei hans arp wurden teller, gabeln, messer, tischstühle, besen, uhren, hüte, krawatten oder knöpfe zu gegenständen in gedichten. der augenfällig respektvolle umgang mit dingen erinnert zudem an gedichte von uwe greßmann, die beispielsweise >Die Seife<, >Das Handtuch<, >Der Eimer< oder >Die Zahnbürste< heißen. birgitt lieberwirth schrieb eine >Ode an das frische Brötchen<. greßmann ging als dichtendes wesen so unbekümmert wie ernst und schlicht durch unschuld aus elementarem hervor. »Du richtest den Kopf hoch, / Davon ist der Himmel blau.« lesen wir bei ihm.
die einfühlung in die dinge bildet für birgitt lieberwirth ebenso ein kontinuum ihres schreibens wie die beschreibung seelischer und psychischer zustände und prozesse anhand von wahrnehmungen der profanen wirklichkeit. die sublime weihe der dinge entspricht der intention eines ideell orientierten poetisierens der realen außenwelt, wie wir sie innerhalb der deutschen literatur besonders ausgeprägt in der romantik finden. bei novalis heißt es: »Wenn ihr die Gedanken nicht zu äußern Dingen machen könnt, so macht die äußern Dinge zu Gedanken. Könnt ihr einen Gedanken nicht zur selbständigen, sich von euch absondernden – und nun euch fremd – d.h. äußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den äußerlichen Dingen – und verwandelt sie in Gedanken. Beide Operationen sind idealistisch. Wer sie vollkommen in seiner Gewalt hat, ist der magische Idealist«. und: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche -« (>Athenäum<).
freilich sollten wir nicht vergessen, daß novalis im sog seines unbedingten universalitätsdrangs, der alles magisch aufheben und mit allem vermitteln sollte, bis zu einem punkt trieb, wo er kriege als notwendig, ja naturgegeben, empfand und erklärte, zwar müsse der sinnlose krieg, also das bloße töten, vermieden werden, der kriegerische kampf im sinne eines ideals hingegen, und dieses ideal heißt bei ihm liebe, wäre der höchsten ehre wert und, da metaphysisch eingebunden, zugleich heroisch und poetisch.
charakteristisch für birgitt lieberwirth und damit ihre lyrik, die vor allem von ihr selber spricht und handelt, ist das völlige fehlen von zynismus. »Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine Sachen haben: denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder. Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so zu haben, als ob man sie nicht hätte. Noch künstlicher und noch zynischer ists aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.« hatten friedrich schlegel und friedrich schleiermacher im >Athenäum< postuliert. und derart die zynische aktion, ein merkmal der künstlerischen, medialen und lebensrealen moderne vorwegnehmend, auch als ungebundenes und enthemmtes spiel beschrieben, das kreativität freisetzt. für birgitt lieberwirth ist dies unannehmbar. sie läßt nicht gelten, daß man den spielerischen zynismus gegenüber dingen vom umgang mit menschen trennen und zwischen artifiziellem und realem zynismus, die ja keineswegs deckungsgleich sein müssen, unterscheiden kann, weil das ihrem beharren auf ganzheitlichkeit widerspräche. ähnlich verweigert sie die verselbständigung formaler mittel gegenüber ihren inhalten.
zugleich geben ihr die sicht und der anspruch aufs ganze ein genaues gespür dafür, daß zusammenbrechen muß, was nicht organisch wächst. möglicherweise folgt sie nicht nur darin hölderlin, dem dichter des morgens, also aufbruchs, für den der abend, ja schon der mittag, nur noch nacht sein konnte. zu hölderlin lassen sich literarische, ideelle, seelische und charakterliche parallelen finden: die metaphysische dimension der eigenen intentionen, die suche nach heiligem, das idealische aufstreben, sympathetische vorstellungen, musikalität und rhythmik der sprache bei mitunter harten bildmontagen, die zornige anklage neben dem schweigen als tiefstem ausdruck der trauer, selbsttreue, stolz und eine neigung zur selbstbestrafung.
Unbekannter Genosse
unter Pinochets Folter
So vergeht diese Sekunde, schlägt mir
Tiefer der Puls, schwarz
Ins Fleisch, geh, Blut, durch mich, ströme mir
Atem, daß ich deinem Auge bleibe, Liebste
Deiner Hand, da ist kein Wort, lösche ich in mir
Deinen Namen, da zuckt nur
Körper, nur…
durch zuspruch die identität bewahren im spürbar begrenzten lebensumfeld, das ist die intention vieler gedichte von birgitt lieberwirth: mit dem wort zu sich selbst kommen, subjekt und souverän werden. daneben stehen direkt auf politische vorgänge bezogene texte, die zunächst nur einen vorgegebenen thematischen oder motivischen rahmen auszufüllen scheinen. das darin, anhand der figuren, kenntlich gemachte befinden entspricht jedoch gleichfalls weitgehend dem der autorin. diese gedichte leben weniger von spannungen zwischen betrachter und objekt als vielmehr durch identifikation. im poetologischen kontext mutet >Unbekannter Genosse< geradewegs wie das verdichtete aussprechen der eigenen notlage an. hervorgehoben ist der liebesentzug. bereits die vielfach dafür gewählten metaphern puls, fleisch, blut, atem, auge und hand verweisen auf den eigentlichen ursprung und antrieb. aus dem gefolterten spricht unzweifelhaft die verfasserin. beim vergegenwärtigen der chilenischen gefängniszelle wird ihr das eigene gefangensein, auch in sich selbst, offenbar.
IM TRAUM LIEGE ICH WACH und das Mondlicht
Läutet an der Tür, tritt barfuß ein und geht über
Die Decke mir, über das Kissen, die Nacht
Hält die Augen auf, der Film
Kommt wieder über die Stadt: Die Bomben
Zersprengen das Haus und Feuer tobt
In den Straßen, ich weiß nicht
Wohin, die Kinder schreien
Im Sturm und blind irren wir fort
Die dunklen Wege zum Bunker, hallt
Die Sirene wieder, -Entwarnung-
Mit der Dunkelheit steigt die alte Angst
Aus den Nischen, nächtliche Stufen führen
Zur Stadt
hier erscheint geschichte als traumatisch weiterwirkendes grunderleben, das die autorin, acht jahre nach dem krieg geboren, nachfühlen kann, indem sie, anhand der berichte der betroffenen, zum beispiel ihrer mutter, fremde not wie eigene empfindet. dadurch versteht sie auch, zumal vermittelt durch ihre eigenen ängste, die historisch bedingten verhaltensmuster von menschen jener generationen, die den krieg als kinder oder jugendliche und daher besonders einschneidend erlebt haben. und denen die jäh einfallenden, vehementen, entfesselten und unberechenbaren gewalten derart elementar als zerstörerisch und todbringend begegnet sind, daß sie noch später alles überraschende, spontane, impulsive und enthemmte einseitig und irrational mit gefahr, bedrängnis, flucht und ruin verbanden und es beargwöhnten, mieden, verabscheuten und bekämpften aus, meist unbewußt bleibender, furcht vorm vergangenen grauen, die sie per projektion auf moderne vielfalt und dynamik übertrugen. und deshalb halt und sicherheit häufig nur in traditionellen, überschaubaren und bewährten strukturen sowie kleinen, stabilen und vertrauten gemeinschaften fanden. konservatismus hängt häufig mit ängsten zusammen.
müssen wir umgekehrt befürchten, daß die nachwachsenden, längst unbefangener, selbstsicherer und zweifelsfreier als jene generationen, die kriege noch am eignen leib erfuhren, je weiter der letzte krieg dem erinnern der lebenden entschwindet, zwangsläufig immer eigensüchtiger, unverschämter und rücksichtsloser werden? und ihre aggressionen erneut ohne hemmung und bedenken austragen? und damit schon künftige ausbrüche kollektiver destruktivität vorbereiten und ankündigen?
verstehen wir beim lesen der gedichte die erschütterungen, die darin gestaltet sind, so wirken manche texte sogar nüchtern, kontrolliert, gefaßt, lapidar. im sprachlichen und bildhaften benennen des körperverhaltens faßt die sprechende sich. zugleich sucht sie nach unverwundeten worten, bildern, zeichen, einer unschuld der sprache. zwar entstammen ihre bildmotive größtenteils einem überkommenen metaphernvorrat. doch im konkreten text verläßt kein bild den gedichtraum unverändert. indem die autorin ihre bilder als momente von prozessen aufeinanderprallen und verschmelzen läßt, kann sie erstarrte gegensätze aufbrechen und aufheben. jedes details regt so an, das ganze mitzudenken.
die mittel der form werden zum ausdruck des widerstehens gegen bedrängnisse und einer inneren mitte, die aus zerstörtem und zerstörendem heraus befreit und belebt. der wechselweise frei pulsierende und abrupt abbrechende rhythmus signalisiert gleichfalls seelisches und psychisches befinden, ausströmen und/oder zerrinnen, aufstreben und/oder zerreißen, substanz erneuern oder ermatten, und ist daher konstituierend für diese lyrik. der mitunter missionarisch anmutende tonfall, nicht der erfüllte, der begehrende redet authentisch verheißend, mit dem sie ersehntes, manchmal regelrecht obzessiv, herbeiruft und kündet, wird, auch stilistisch, immer wieder gebrochen, indem ein dissonantes rhythmisieren dazwischenkommt und in den hymnischen und elegischen ton, der seine ursprünge im kultischen gedicht hat, einfällt, das heißt ihn bricht und relativiert, »Jedes Wesen ist ein zerstörter Hymnus.« schrieb emile m. cioran (>Die verfehlte Schöpfung<), so daß sein auslöser zum vorschein kommt: die unabgegoltene erwartung einer liebe, die nicht nur der maßgabe eines momentanen bedarfs folgt, also verwendbar ist, sondern übergreifend als ferment der sensibilisierung der einzelnen menschen wie des menschlichen umgangs wirkt und derart zum faktor der sublimierung wird. birgitt lieberwirth arbeitet damit auf eine kulturfähigkeit hin, die sie vor allem in der gabe zum einfühlen sieht und der ein individualismus entspricht, der gerade nicht persönlich und privat, subjektiv und protektionistisch, selbstanspruch und partikularinteresse, individualität und egoismus verwechselt, eben weil er einem ganzen verbunden bleibt. mit diesem inneren wertegefüge entgegnet sie auch jenem hochmütigen privatismus, der glauben macht, die welt bestünde einzig aus dem selbst erlebten, und nicht zuletzt deshalb fremde lebensformen so leicht mißversteht oder gar verachtet.
So bist du
Meine Haut und ich atme
Mir dir, ich verletze dich in der Hast
Des Morgens, beim Brotschneiden, sagst du: Geh
Weiter, es ist nichts, nur ein Riß, nur
Eine kleine Wunde, ein Schnitt, nur ein wenig
Blut, ich geh und du hältst mich,
Mein Mantel, meine Hülle,
Auf der Straße reißt dich der Winter
Springst du auf, meine Lippe, so verletzbar
Bin ich durch dich, Haut, du umklammerst mich, liegst an
Den Brüsten mir, gibst meinem Leib nach, du
Faßt mich.
mit dreierlei bedeutung ist hier die haut angesprochen: als bergende hülle des körpers, deren räumliche erweiterung in andern texten wasserglas, wohnstatt und raumkapsel bezeichnen, das ich selbst und, darin enthalten, das heißt so lange projiziert, bis es wie real erscheint, ein du. die bildsprache bei birgitt lieberwirth beschreibt häufig die aufspaltung des lyrischen subjekts in ein ich und ein du, die dann meist wieder verschmolzen werden oder zumindest interagieren.
die haut simultan als ich und du zu erleben, ermöglicht dem subjekt, durch die partielle verfremdung ins du, sich nahe zugleich distanziert wahrzunehmen und umgekehrt. dies gewährt, im abstand, der beim verwandeln entsteht, toleranz dem eigenen befinden gegenüber, die das sich bekennen zur körperlichkeit auch da ermöglicht, wo diese, weil gelebter liebe entzogen, unverfremdet kaum mehr ertragen werden könnte. die haut, mittler zwischen innenraum und außenwelt, gibt somit schutz und halt, indem sie, mittels einer fiktion, die letzten endes zu fleisch und blut wird, ein du in sich aufgehen läßt. bei paul zech heißt es im gedicht >Das ist die Stunde<: »Das Du in mir, das Ich in Dir / lebt ungetrennt // fortzeugend noch, bis wir / vorwärts in heiligen Scharen / gemündet sind als Waldung oder Tier, / und wiederkehren nach Millionen Jahren.«
Wie das Wasser bist du
Im geschliffenen Glas, mein Blick fällt
In dich und sinkt
Auf deinen Grund, das Meer
Bist du, deine Wellen gehn
Durch mich, deine Hände, dein
Körper, dein Mund, werde ich: Das Meer,
Wellen steig ich, sink ich, dein Atem
Dein Blick fällt
In mich, wie das Wasser
Bin ich, im geschliffenen Glas …
die autorin betrachtet ein im glas eingeschlossenes du, ehe sich der kontemplative bezug von betrachter und gegenstand zum beglückenden zusammenfließen beider wandelt und weitet. das versinken wird hingabe, bei der die schauende, vom licht der eignen projektion überflutet und gebannt, und damit auch gefangen, einen gleichklang zwischen ich und du erzeugt. im gefäß formt sie alchimistisch ihre gegenwelt und strebt darin zu einem ganzen hin, so daß ein poetisches universum in und aus der glaskapsel entsteht. dabei ist das auge das organ des imaginierens. phantastisches erscheint oft zuerst visuell. das auge, und damit das wort, verfügt, was ins bild gehört. innenschau, also das erkunden der eignen seele, bedeutet hier: alles sehen saugt den stoff in sich hinein. else lasker-schüler schrieb im gedicht >Gebet (Meinem teuren Halbbruder, dem blauen Reiter)< für franz marc nach dessen tod im krieg: »O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest. / Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest, / Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, / Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt / Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.« in gedichten von gertrud kolmar finden sich ähnliche verschmelzungen von ich und du, die grenzen durchbrechen und so das ich wie das du erweitern.
auge, glas, wasser und licht bilden auch sprachlich einen zusammenhang. polnisch oko heißt auge, okno fenster und morskie oko=meeresauge ein bergsee. kroatisch oko=auge ist die tiefste stelle eines sees, òkno die fensterscheibe. englisch window bedeutet eigentlich windauge. im isländischen verbinden sich auga=auge und ljós=licht zu augljós=einleuchtend. die synthese von auge und glas wäre der spiegel, und darin, auf die gedichte von birgitt lieberwirth bezogen, das verdoppelte und gebannte ich im geschliffenen glas, eine andere art kapsel, insel, gefängnis. es inszeniert indes leicht immer dasselbe, obgleich in abwandlungen, wer sein abbild allein in sein gegenbild verwandelt und umgekehrt. das bild, das man sich bloß macht, wird auf dauer zur statue, ikone, mumie. und am ende entmenschen, wenn sie nicht überwunden werden, alle verkörperungen, die oft auf traumatische erfahrungen zurückgehn. das reine, abgeschlossene, erstarrte symbol kündigt bereits den zerfall dessen an, was es zu enthalten vorgibt. und auch die mumie muß irgendwann verwesen. die verinnerlichte inkarnation dann wieder zurück ins leben zu bringen, würde das durchstoßen des eigenen spiegelbildes verlangen. solcherart im bild, also spiegel, sein hieße aber, beim bilde genommen, das ich, das ichdu und das duich, im glas zerschlagen zu müssen, so daß sie einzig noch im blutigen ende vereint wären, und danach nur vielleicht am leben, diesem tropf, zu bleiben. denn die letzte spiegelschärfe ist der tod. »Blank sind die Klingen: wer säumte im Tod nicht vor Spiegeln?« heißts bei paul celan.
oder bewahrt gar allein die visionäre distanz zum erlebten das leben? und das imaginierte wäre zu fürchten, sollte es aus dem glas, in das es gepreßt wurde, heraustreten? sieht nur zwei auswege, wer sich spiegelnd hypnotisiert: entweder entsetzt umkehren und die abkehr von den selbst geschaffenen spiegelungen ertragen oder ins eigene auge, das glas, den spiegel springen? bliebe das ich andernfalls der selbstmagie ausgeliefert und innere zwänge erschienen weiter als äußere? bis ich und du ununterscheidbar werden und schließlich ineinander erstarren und verhärten? eine alternative dazu könnte der dialog mit dem spiegelbild sein.
der spiegel ist das glas vorm auge. man kann ihn, und damit das bild, das er wirft, drehen und wenden, oder abgehn von der augenglasspiegelbühne. birgitt lieberwirth trägt ihren spiegel wie einen gläsernen dorn im auge, der die gewünschte und verinnerlichte spiegelwelt beständig konfrontiert mit der unberechenbar, dissonant und schmerzhaft eindringenden äußeren wirklichkeit. ihre gedichte beschreiben die zusammenstöße beider welten in ihr. zugleich hat sie angst vorm verlust ihrer kultgegenstände, wohl weil sie die realwelt in der gegenwelt noch nicht vollständig und endgültig überwinden kann. was man besiegen muß, wird einem indes nie ganz gehören. und der sprung durch den spiegel, also letzten endes durchs eigene ich, der, da ihm ein andauerndes selbstbetrachten und zurückschrecken vorausgeht, kein einmaliger akt ist, könnte, sofern er gelingt, ein gnadenlos objektivierendes selbstbild hervorrufen, durch das die fiktionen wie von selbst ihren glanz verlieren und zerfallen müßten, so daß die akteurin hüllenlos dastünde, der erhoffte zustand, doch nun ohne bild, ledig des bergenden mantels der visionen, verwundbar durch alles und jeden, gleich dem gerad geborenen kind.
das emphatische liebesverständnis von birgitt lieberwirth ist aufs ganze gerichtet. die basis dafür bleibt jedoch die ich/du-beziehung. bricht dieses fundament weg, wird sie von ihrer eignen utopie erschlagen. aufrichten können dann erneut nur träume als abbilder des versagt gebliebenen. und halt gibt allein ein verheißungsglaube, der in der poesie leben läßt, die das erhoffte immer noch utopisch bewahrt, sogar wenn es real schon abstirbt. einzig das ungelebte, also gelobte, fleisch wirkt so beständig und unzerstörbar. andere würden derlei figurationen für die überreste vergangener kulturepochen halten und virtuos wie narren damit spielen. birgitt lieberwirth nimmt sie ernst und leitet kulturschöpfende ambitionen davon ab. man mag dies überholt nennen. zu fragen wäre: wovon? die annahme, die welt bewege sich ohnehin bloß im kreise, scheint mir jedenfalls anachronistischer.
vielfach findet sich bei birgitt lieberwirth das motiv des wassers variiert, das zunächst weniger ein dunkles, unergründliches, hinabziehendes, zerstörerisches element ist als vielmehr belebend, mitreißend, schöpferisch, spiegelnd. etliche der gedichte artikulieren in der hinwendung zum fließenden das verlangen nach einem gewaltlosen sich lösen aus umgrenzungen. fließen bedeutet hier, gewordenem das werden entgegenzusetzen. das wasser erscheint als sphäre des eintauchens ins magische, imaginäre, phantastische, worin das ich sich gleiten lassen und ausströmen kann. beides sind bewegungen der vitalität und des glücksempfindens, die sowohl real und gegenwärtig als auch fiktiv und utopisch ausgelebt werden können.
ägyptisch war die nilflut symbol der wiedergeburt. frühchristliche autoren verstanden die sintflut als taufe der welt, die sterben und neu geboren auferstehen läßt. dem entspricht die befruchtende und lebensspendende wirkung des wassers, das bei thales von milet der ursprung aller dinge ist. manche wasserundflußgötter waren zugleich fruchtbarkeitsgötter, so die der aphrodite ähnliche persische göttin anāhitā, nach der im persischen der planet venus benannt wurde, oder die nymphen, wesen der gewässer, jugend, schönheit und liebe. novalis nannte das wasser das element der liebe und das meer den bereich von freiheit und gleichheit und schrieb: »wenn der unerfüllte Trieb in die unermeßliche Höhe will, so versinkt die glückliche Liebe gern in die endlose Tiefe.« freilich meinte novalis auch, daß ein wenig jeder fluß der acheron sei.
Der Fluß
Liebe, so leise fließt du, wie der Fluß
Durch die Stadt geht, laut nur
am Wasserfall, da stehe ich und rufe
Dir nach, bist du taub
Geworden nach dem Donner
Des Kriegs, aus dem du kamst
Durch die Marschlieder floß
Dein Blut, Fluß, die Toten trieben
Ans Ufer, blieben
Hängen im Gestrüpp, mit offenen Augen
Sahen sie doch
Nicht mehr die Stadt…
den Dom auf deinem Sandsteinfelsen, den du umspülst
Jahrhunderte
So leise wurdest du, Liebe, weil niemand mehr
Nach dir fragt, du bist da, dunkler Fluß
über den sich die Brücken
Schlagen.
das gedicht >Der Fluß< vergegenwärtigt die liebe im bild des stroms, der die stadt als lebensader und verkehrsweg stetig und harmonisch durchfließt. doch die liebe wird vom wasserfall, einem donnernden gott/vater/krieg, hinweggespült. und das befreiende strömen erstirbt unter der last der angst, das trauma wiederhole sich, der geliebte, der heroische vater, dessen bild das kind ikonenartig an der wand hängen sah und den die autorin auch verklärt, weil er als todesgestalt, die er objektiv ist, fortgesetzt abzuwehren bleibt, sei abermals nicht oder nur verloren faßbar: »da stehe ich und rufe / Dir nach.« in >Du verlierst mich< lesen wir: »ich falle / In den Fluß, ich falle / Den Wasserfall, Worte fallen / In den Strudel / Du verlierst mich … «
c.g. jung beschrieb die ambivalenzen des fließens so: »Wie die Libido einem beständigen Strome gleicht, der sein Wasser weit in die Welt der Wirklichkeit hineinergießt, so gleicht der Widerstand, dynamisch betrachtet, nicht etwa einem im Flußbett sich erhebenden Felsen, der vom Strom über- oder umflutet wird, sondern einem Rückströmen, statt nach der Mündung, nach der Quelle hin. Ein Teil der Seele will wohl das äußere Objekt, ein anderes aber möchte zurück nach der subjektiven Welt, wo die luftigen und leicht gebauten Paläste der Phantasie wirken.«
Tiefer sinke ich aber in den Fluß und lege mich
In die Strömung, mein Haar
Ist nur Gras, durch das streift das Wasser
Mit seinen Händen, tot bin ich
Noch nicht, doch ich halte den Atem
An, diese Nacht stürze ich vom Geländer
In mir zittert der Mond
Findet die Sprache wieder, unter der Brücke
Treibe ich in den Strudel und kreisele, nur die Stadt
Wirft ihre Lichterschnur nach mir
das lyrische ich von birgitt lieberwirth setzt sich dem fluß aus, verwandelt sich ihm an und geht in ihm auf. das wasser erscheint vermenschlicht und hat hände. und wenn sie im element nicht findet, was sie darin erhofft, ahmt sie es nach und wird ihm selber ähnlich. unablässig bestehen bleibt dabei die spannung zwischen hingabe, haltsuche und ausgeliefertsein. einerseits das sehnende versinken und zum andern, oft unmittelbar darauf, in genauer ambivalenz, der jähe sturz und harte aufprall, wie in >Triptychon 3<, wo die kontemplative partnerschaft, bei der die grenzen zwischen ich und du zerfließen, abrupt und schmerzhaft endet: »So finde ich dich / In mir, das Blut bist du und gehst / Bis ans Ende, in die Fingerkuppen, du / Treibst mich, und ich stürze / Deinen Fluß, Stufe um Stufe schlag ich / Auf«.
zwei weitere gedichte beschreiben den verlust so: »Einsamer bin ich nicht als im Regen, der läuft mir / Zwischen den Fingern fort, der tritt zwischen / Die Zehen, der rinnt mir über den Rücken / über die Brust, der legt sich auf die Welle / Treibt weiter fort, an den Streifen / Horizont, den der Dampfer zieht.«, und noch gesteigert: »Als ich dich suchte fiel ich / Mit dem Regen in die Rinnsale der Straßen / Floß in die Schleuse, unterirdisch / Zum Fluß, da wurde ich eins / Gewaschen mit allen Wassern der Stadt, drehte mich / Im Strudel am Brückenpfeiler, im Fahrwasser / Der Schleppkähne lag ich quer / Gegen den Strom.« hier wird aus dem getriebenwerden, das auch ein ertrinken assoziiert, durch die querlage unversehens eine protestgeste.
schließlich verwandelt sich das wasser, und darin das subjekt selber, vom medium der sehnsucht in das der trauer um das nicht erreichbare ideal und die damit verbundenen selbstverluste: »NACH DEM SCHREI / Nehme ich mich zurück, wie die Meereswelle / Weicht, ich hab mich verloren / In der Welt, meine Füße tasten / Den Weg, meine Hände rufen nicht / Mehr, in welcher Sprache wache ich / Wieder auf, Mund, mit welchem Schweigen / Werde ich laut.«
schrei und schweigen lenken hin zur alternative, im gleichklang, gleichmaß und gleichmut des wahrnehmens und erlebens, einem in naturhaften kreisläufen harmonisch, und notfalls auch hermetisch, aufgehobenen dasein geborgen zu sein, das den existenzformen der elemente, hier der gewässer und des winds, der den eigenen atem assoziiert, oder von steinen und sand, nachgebildet ist, wobei sich ebenfalls körper und wasser begegnen und ineinander überzufließen scheinen: »Nackt liege ich, zwischen den Steinen / Schlägt die Welle an, geht über den Sand / Mein Atem … offen / Liegt das Meer mir an den Füßen … Barfuß geht der Wind übers Meer, schiebt / Das Boot an … der sichere Steg / Schwankt auf und ab mit dem Atem / Des Meers … Einfach liegen, die Sonne tritt über / Den Leib mir, ich schreibe im Sand / Deinen Namen … Die Welle kommt, die Welle / Geht, tritt mir über den Fuß, Sand / Fällt mir zwischen die Zehen, fällt / Zwischen die Finger, zwischen Auge und Lid, Sand knirscht / Zwischen den Zähnen, zwischen / Den Worten.«
bis in diesen bereits wieder dissonanten ausklang hinein übernehmen wasser und sonne eine erotische und erotisierende funktion. denn diese bilder sind wohl weniger metaphorisch als realbildlich zu verstehen. das glücksempfinden erscheint hier nicht mehr verfremdet im imaginären, wie wenn man sich eine meeresmuschel ans ohr hält und meint im rauschen, das vom eigenen blut kommt, das rauschen der meere zu hören, sondern in unmittelbar sinnlich erfahrener natur und darin sogar einsam lebbar. das ist vielleicht ein anzeichen für erschöpfung und resignation, möglicherweise aber zugleich der ansatz zu mehr gelassenheit und ruhe, die allerdings nie lange andauern und bald erneut vitalen aufundausbrüchen weichen müssen.
Winter
Es ist aber nichts
Das mich hält, nicht der Sturm
Mit seinem Messer aus Eis, der schlitzt den Morgen
Auf, der übers Feld kommt, das Auge voll
Licht, es ist aber nichts
Das mich zurückhält, ruf nicht
Nach mir aus dem Fenster, aus der aufgerissenen
Tür, es erreicht mich nicht: Der Einbruch
Der Dunkelheit, nicht der Frost, der wirft mir
Den Rauhreif ins Haar, nicht der Spruch
Der Krähe vom kahlen Baum, ich bin
Nicht zu halten, Winter, du machst mich nicht
Kalt mit deiner Stimme, ich fürchte dich
Nicht, ich geh, ich geh
über das erste Eis auf dem Fluß
hier endet der vitale aufoderausbruch mit dem betreten des frisch vereisten flusses, das indes auch dem szenarium eines wassertodes folgen könnte. denn beschrieben wird ein realer und nicht bloß imaginierten wasserspiegel, dessen eisdecke dünn ist, wodurch auch im motiv des eises, wie bei dem des wassers, die gefahr ins bild kommt, haltlos, nicht zuletzt durch die eigenen unaufgehobenen energien, hinweggerissen zu werden, was dann als alternative zur glatten fläche, unter oder hinter der abgründe lauern, und zum ausgeliefertsein im fließen wiederum die selbstrettung durch verkapselung nahelegt, die für die kommunikation, das heißt zum durchstoßen der schützenden gläser, wände, hüllen und häute, allein das schauen, rufen, klopfen und funken läßt. sieht man das eis als einen spiegel, so mag dieser freilich den anschein erwecken, die eigne gestalt sei darin, womöglich sogar zusammen mit den fiktionen, aufgehoben und bewahrt. »Im Brunnen bin ich, Wasser tropft / von der Wand, Schall steigt, ich rufe / Nicht, ich halte im Auge mein blaues Licht.« heißt es an anderer stelle. der brunnen, ein symbol des mutterkörpers, ist auch als eingang in die unterwelt gedacht worden.
das ich der birgitt lieberwirth sucht unablässig weiter nach verkörperungen des erhofften und geht darin auf. in >Wahn-Sinn< lesen wir: »über die Rundbögen der Gräser / Die sich über alle Zeit beugen, die das Vergessen / Tragen, ging ich dich suchen, und fiel / Auf die nackte Erde, begann mich aufzugraben, fand / Dich unter den Toten, dein Grab / In meinem Leib, starb auch und legte mich / Zu dir / Unter der Erde sind wir eins, wenn der Morgen / Dich gebiert, wenn die Nacht mich freiläßt / In deinen Arm, in mein Wort ging ich / Längst.« der geliebte wird im grab, das zugleich der eigene körper ist und umgekehrt, gesucht und gefunden, so daß da heraus durch selbstaufopferung und zuspruch seine wiedergeburt möglich scheint, eine mythische fiktion, vom eignen wort vollendet. das gedicht schließt mit dem verzweifelten anruf: »Geh Gedicht, leuchte Gedicht, werde groß / Wie ein Gebirge, stehe am Horizont, eine Bergkette / Sei uns, Aussicht.« eine andere, damit korrespondierende, passage lautet: »Mit meinem Wort steig ich, mit meinem Wort / Fall ich, die Kerze in der Hand und gebe / Lichtzeichen, versteh mich mein lieber / Mein naher Mensch, nicht schön genug / Ist mein Gedicht.« dem eigenen sprechen werden beschwörende und errettende, das verlorene wiedererweckende und das unerreichbare heranholende, also letztlich übermenschliche kräfte und wirkungen abverlangt, ja man hat das gefühl, die sprache soll den geliebten nicht nur herbeirufen, sondern sich selber mit ihm vereinen. die lyrik von birgitt lieberwirth formiert individualmagie, die auch religiöse interpretationen erlaubt, sofern man religion nicht auf einen kirchenglauben reduziert, sondern übergreifend ideell und utopisch versteht. manche der gedichte erinnern an texte christlicher, jüdischer oder islamischer mystiker, die sich an gott oder den göttlichen geliebten richteten, in dem sie aufgehen wollten.
würde das erwartete indes real erscheinen, käme es unweigerlich in konflikt mit den phantomen der liebe. das gewünschte darf, soll es im gedicht erhalten bleiben, gerade nicht wirklich und der phantasieraum nicht verlassen werden. die situation des ich muß, um nicht der nivellierenden melancholie einer partiellen oder temporären erfüllung zu verfallen, objektiv und real ausweglos bleiben, damit es subjektiv und fiktiv umso glücklicher auflebt. wem alles fehlt, der darf auf alles hoffen. jenseits des lebens bleibt die substanz. was profan versiegt, kann metaphysisch, auferstehn. das leben wird zum ritual. man spielt seine rolle und weiß insgeheim, es endet tragisch. und zuletzt entsteht selbst daraus noch ein neuer mythos: allein der oder die gestrandete, ausgestoßene, geschlagene, deklassierte sei in dieser welt mit sich selbst identisch und somit annehmbar.
das ich ist im verkapselten, in dem es sich hingibt und zu fassen versucht, geborgen und gefangen, wie die zelle verlies und kapelle, gruft und wabe, bunker und palast, doch auch keim, aus dem sich die substanz zum leben erneuern kann. wäre vielleicht der leuchtturm der ideale wohnort, in den sich das ich, wenn das ersehnte nicht erreichbar ist, zurückziehen und worin es der mitwelt auge und mund sein, also leuchten und funken könnte? das sehen ginge so in lichtzeichen über, notsignalen folgten wegweiser. in mythen und religionen verbindet der turm erde und himmel, profane und heilige sphäre. auf frühchristlichen grabsteinen war der leuchtturm sinnbild des himmlischen hafens. die im turm lebende märchenfigur rapunzel singt wegen ihrer einsamkeit. und weil der turm keine öffnung hat. auch das wasserglas, die andere kapsel, darf nicht geöffnet werden, da es sonst ausliefe wie der stoff zum leben bei einem aufgeschlagenen ei. das ich kann das gefäß nur in sich zum meer erweitern, wie in der außenwelt die küche zum kosmos. im turm wär es zudem, auf symbolischer ebene, in einem phallussymbol und hätte das organ der zeugung einer haut gleich um sich, was zugleich den rückzug hinters gezeugtwordensein assoziiert, womit auch der vater aufgehoben wäre. in seiner form ließe sich der turm überdies als gebilde der pflanzenwelt mit stengel und blüte empfinden und bekäme derart etwas vegetarisches. andererseits sollte man sich im leben auch von seinen entwirklichungen immer wieder entwirklichen.
die autorin zeigt sich uns als gezeichnete und zerrissene, zwischen verzweifeltem schrei und übersteigertem pathos, exzentrischem aufbruch und rückzug ins utopische. und läßt uns damit fragen, wie wir auf verletzte menschen reagieren, distanziert, was auch der fall wäre, wenn wir ihnen bloß als objekte unseres mitleids begegneten, oder durch das einfühlende kontaktnehmen mit der, immer widersprüchlichen, subjektivität des jeweils andern, womit diese gedichte als das zu begreifen wären, was sie zuallererst sind: medium, vorgang und resultat der trauerarbeit und versuchten selbstheilung und derart spiegelbilder des menschlichen seelenraums, die nicht verleugnen, daß psychische und seelische reaktionen, auch wo sie verselbständigt wirken, von erfahrungen der außenwelt geprägt wurden, an diese gebunden bleiben und auf sie zurück wirken. birgitt lieberwirth gehört zu jenen lyrikern aus ddr-zeiten, die gerade wegen ihres idealismus weiterwirkend etwas konstruktiv beunruhigendes behalten könnten, sofern sie denn künftig wahrgenommen und nicht allein historisch, und damit wie etwas totes, betrachtet werden.
1991, überarbeitet 2013