Lesart von Gedichten, paradoxe Bespiegelungen
„Die Frage sollte nicht sein, ob es möglich ist,
von der Poesie zu leben. Die Frage sollte sein,
ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben.
Jan Wagner
Geziemte es sich nicht für jeden Schriftsteller auch Gedichte zu schreiben, um sich in der Kunst von Verdichtung und lyrischer Hellhörigkeit einzuüben? Der Gedichtband Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen (Suhrkamp; 2000) des Lyrikers und mittlerweile auch zweifachen Romanvaters Robert Schindel (Gebürtig 1995, Der Kalte 2013), ist historisch gesehen sein 5. Gedichtband nach Ohneland (1986), Geier sind pünktliche Tiere (1987), Im Herzen die Krätze (1988), und Ein Feuerchen im Hintennach (1992). Der schmale Band Immernie mit klangvollen Wortprägungen und etlichen Belehnungen aus dem Wiener Dialekt, überbrückt ohne Mühe die Zeit die sich der Autor mit seiner Veröffentlichung gelassen hat. Wie klingt die lyrische Stimme nach dem längeren Schreiben in Prosa, dem ersten Roman des Autors, war die Frage die sich etliche Literaturkritiker stellten. Rau soll sie geblieben sein, rau aber seelenvoll und wie immer wortschöpferisch und sprachreflexiv. Robert Schindel wurde für sein lyrisches Werk bereits 1992 mit dem Erich Fried Preis und 2000 mit dem Eduard Mörike Preis ausgezeichnet.
Der Gedichtband Immernie liegt – bereits sehr abgegriffen – auf dem „Geviert“ der anderen Bände, und über seinen lyrischen Nachfolgern wie etwa Nervös der Meridian (2003), Fremd bei mir selbst (2004), Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies. Liebesgedichte (2004,) Wundwurzel (2005), sowie Mein mausklickendes Saeculum (2008) im Lyrikteil meiner Bibliothek, wahlverwandtschaftlich nahe bei Heinrich Heine, Berthold Brecht und Paul Celan, so wie sie Pate standen für den Lyriker Robert Schindel, der dennoch einen eigenen Stil, einen persönlichen freien Ton gefunden hat. Besonders in Immernie, in dem die jüdischen Themen nur subkutan vorhanden sind wie es Daniela Strigl (2009) formuliert und in dem das Prinzip des Nicht-Aufhebens „der widersprüchlichen Verfasstheiten von Welt und Gemüt“ (Christiane Zintzen, 2000) für Bruchstellen und Aufmerksamkeiten sorgt wie es nicht nur in der Lyrik sondern im Lebensalltag von Bedeutung ist, in dem also von inneren und äußeren Widersprüchen, von tagesgeschichtlichen Ereignissen die Rede ist, wie in keinem der Gedichtbände davor.
In Immernie stehen einander die Themenpaare Liebe und Sehnsucht sowie Tod und Vergänglichkeit gegenüber, toben sich warmherzig, humorvoll und BILDeigenreich um die grundsätzliche Vorherrschaft – oftmals wortwörtlich – aus. Die überschwänglich sinnliche Lust am Leben ist es jedoch, die sich nicht ins Randständige verdrängen lässt, die als das Unsichtbare, jedoch nicht Unaussprechbare, durch den Gedichtband zieht. Gehen wir auf Kundschaft.
Schon der Titel setzt sich aus den Gegensätzen von stets Vorhandenem (immer) und gänzlich Fehlendem (nie) zusammen, die die Absolutheit von Zuständen zu vermitteln suchen. Es sind die Paradewörter von sogenannten Jammerern, die klagen wie: immer geht es mir schlecht, nie krieg ich was ab, immer die anderen, nie ich u.s.f. was solche zur Stabilisierung der Einrichtung ihrer Opferrolle benötigen, doch im Gedichtband selbst nirgends direkt anzutreffen sind. Das Moos ist ein Belag auf Steinen oder recht trockenem Waldboden, eine vegetative, lebensfähige Schicht die allerdings nicht tief wurzelt wie anderes Pflanzliches. Dem Nachteil – so es einer ist – des geringen Untergrundhaltes, stehen die vorteilhaften Optionen vom Vermögen relativ viel Feuchtigkeit zu speichern und mit recht geringen Mengen von Nährstoffen auszukommen gegenüber. Die Neunzigerhöhlen sind vorstellbare bergende Orte in Gestein oder Bergland für die Ursprungsbewohner, hier für das lyrische Ich in den 90iger-Jahren, das ähnlich wie im Band 4 viel unterwegs ist mit seinem reisenden Autor. Sind doch die Lieder, Elegien, Sonette, Balladen und Scherzi am Ufer des Tiber, in Berlin, Zürich, Wien, Slowenien und in „Depressenburg“ entstanden.
Der zweiteilige, aus 6 Wörtern bestehende Titel enthält bereits zwei Wortschöpfungen und gibt Hinweise auf die stilistische Art ( experimentell und existentiell) der Versesammlung.
Der Inhalt des Bandes ist, in sechs Kapitel geordnet, die Kapitelüberschriften ergäben zusammengelegt bereits wieder ein eigenes Gedicht:
Über die Ebenen geht er
Abgelegen dämmert es zu Tag
Nun allerdings fielen Wörter
Ich selbst dem Anderwärts verhaftet
Bloß weil das Unausgesprochene
In diesem Geviert Gefreie Geschlucke
Wagt man den seltenen Versuch, der Gliederung des Buches als Ganzes, sozusagen als Rückgrat des Bandes in Gedichtform, entlang zu gleiten, und erst danach sich die einzelnen Wirbelknochen (Gedichte) der Wirbelsäule (Kapitelüberschriften) vorzunehmen, vermag sich ein gewisser Erkenntnisruck wie bei der Sitzung eines Chiropraktikers einzustellen. Um die Unbeweglichkeit der Selbstversuche, Gedichte dieses Genres zu verstehen, die Verschiebungen und bewusst eingebauten Ver-Störungen linguistischer Art zu erfassen, erfordert es so manchen Kunstgriffes. Wenn Robert Schindel seine Gedankengänge lyrisch abdrängt – gleichsam Wirbel aus der Normallage bringt, und wenn wir Leser und Leserinnen dabei quasi aufkommende Taubheit verspüren, bedarf es einer Rückplatzierung, einer richtigen Positionierung mit Verwendung der Dorn- und Querfortsätze als Hebel, wie es der Begründer der Chiropraktik Daniel David Palmer (1845 – 1913) versuchte, um das Gehör eines Mannes wieder zum Funktionieren zu bringen.
In Immernie geht also einer, der dem Anderwärts verhaftet sich schildert, über Ebenen die abgelegen sind und es „dämmert zu Tag“, also ist es in der Früh und es fielen Worte: das Wer, Wo und Was des Inhaltes scheint klar. Doch dann das Zurücknehmen mit einem „Bloß weil“ und ein zunächst unverständliches Gestammel von „in diesem Geviert Gefreie Geschlucke“. Eine Alliteration! vermag der Literaturfreund zu erkennen Ja, und? Man ist hier versucht die dazugehörenden Gedichte, die der Autor unter die Kapitelüberschriften setzte, aufzuschlagen. Doch hieße das den klassischen Weg der Analyse zu begehen, den zweiten vor den ersten Schritt zu setzen bei einer ganzheitlich angesetzten Betrachtung des komplexen Angebotes eines Dichters. Machen wir uns stattdessen ein Bild von der Fragstellung nach dem Bruch der auftaucht, der für Erschütterung in uns Lesern und Leserinnen sorgt.
Die offensichtlichen Geheimnisse in diesen Zeilen drehen sich um das Verhaftetsein dem „Anderwärts“, um das „Geviert“, in dem „Gefreie“ und „Geschlucke“ vor sich geht.
Bildlich leicht zu lösen scheint das Geviert, als eine abgeschlossene, begrenzt definierte Fläche in dem also das „Gefreie“ und „Geschlucke“ des Lyrichs vor sich geht. Es vermag jedoch auch eine Gruppe von vier Personen sein, die Schilderung einer Gruppendynamik. Das „Gefreie“- ein Gefreien im Sinne von Freigeben, sich frei machen, doch auch wiederum BInden im Sinne von Freien um die eine oder andere Frau, das mit Geschenken einhergeht, mit Unsicherheit und dem Eingeständnis dazu. „Geschlucke“ als oraler Vorgang. Etwas wird also schlussendlich geschluckt, aufgenommen, angenommen. In Wörtern eben, die fielen die in das Geviert gehören wie zum Gefreien.. Für uns LeserInnen allemal Geschenke, wenngleich vielfach verpackt.
Rätsellösungen gehen nicht mit Konfrontationen vor sich. Umgeht man zunächst die Klippe der letzten Zeilen, begeben wir uns spiralförmig zurück in die Ebene der ersten Zeile, „Über die Ebenen geht er. Nicht eine ist es, mehrere Ebenen sind es. Vor dem Auge des Lesers/der Leserin erheben sich mehrere Stufen über die das lyrische Ich in entsprechender Gedichtanzahl schreitet. „Abgelegen dämmert es zu Tag“, impliziert Stille und Schweigen, jedoch auch Ferne oder weiter ausholend etwas Abgelegenes, gleichsam alten Matratzen, weltliche Schlafstätten, die nicht mehr ihren Dienst erfüllen. Soweit zum Verorten der Zeilen. Zeitmäßig handelt es sich um die Morgendämmerung – nicht die abendliche, sich verdunkelnde, sondern der sich erhellende Übergang zwischen zwei Tages-/Lebensabschnitten wird geschildert, Erkenntnis und Erhellungen sind das, was das „Werk“ dieses Gedichtbandes zu vermitteln vermag.
„Nun fielen Worte“, in Selbstgesprächen an den Körper, an ein angesprochenes Du, unterschiedliche Du., von denen sich der Erzähler abgrenzt und von sich selbst als dem „Anderwärts verhaftet“ spricht, sich als dieser definiert. Dieses Dem Anderwärts verhaftet, zeigt metaphernmäßig auch die andere (Denk- und Gesinnungs-)Richtung des lyrischen Ichs an. Verhaftet als feste Bindung einer Anschauung einerseits, Anklang an Haft, die Gefängniszelle der ideellen Anschauung die das lyrische Ich vertritt, andererseits. Und zwar so ganz anders als das lyrische Du, ein Gegenüber das mittels Aussparung – dem literarischen Kunstgriff des Autors wiederum- dennoch durchklingt.
Aus einer Pressenotiz ‚Die Zeit’ vom April 2000 entnahm ich, dass der Rezensent Arne Rautenberg (dt. Schriftsteller und Künstler, *1967) den österreichischen Lyriker für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen – da friedliches Privatleben, dort Krieg und Tod – die er in seinen Versen zum Klingen bringt, bewundert. Reflektiert doch Robert Schindel in seinem unscheinbar wirkendem schmalen Band „die politischen Verwerfungen der Neunzigerjahre vom Golfkrieg bis Algerien, politische Gedichte also.“ (zit. n. @perlentaucher.medien GmbH) Im letzten Gedicht in den letzten Zeilen ist dem (paradoxerweise) Nichts/Alles anzumerken:
„Singen wir
Unser Dennoch.“
Wer über Lyrik redet, muss auf den Einwand gefasst sein, dass das Reden und Interpretieren den Sinn(es)genuss beeinträchtigt. Andere Wirkungen erzielt das Beschreiben von auftauchenden Bildern zum Erkennen von bildhaften Zusammenhängen. Ein gutes Gedicht /ein guter Gedichtband zielt auf d i e Stelle(n) im Leser/ in der Leserin, der als Knackpunkt bezeichnet werden kann. Das Aufeinanderprallen von Lebensmomenten in bildhaften Prozessen, filmgleich – kopfkinoartig, also in bildhaften Verkörperungen, ist d e r Drehpunkt, der Verschobenes mittels aufgedeckter Bruchstellen sichtbar macht u n d gleichzeitig gleichnishaft einzurenken vermag.
Einem Korpus von Gedichten, der mehr als unter die Haut gehen kann, bleibt man verpflichtet wie einem Menschen der sich in Gefahr oder anderen wichtigen Lebenssituationen bewährt hat. Der Unschärfe dabei sei Lob. Geht „das Gedicht“ beim Erstellen von Paradoxien, beim Zusammenführen gegensätzlicher Positionen- sowohl erhabener als auch banaler – immer zugleich spielerisch und mit großer Strenge gegen sich selbst vor, löst die Poesie Dinge und Begriffe mit Bedacht und voller Absicht aus ihren gewohnten Zusammenhängen, wie Jan Wagner in seinem von Leidenschaft für die Lyrik durchdrungenen Essaybandes „Die Sandale des Propheten“ offen legt.
Setzen wir nun nach dem kurzen Abstecher, vermeintliche Selbstverständlichkeiten anders zu sehen, die ersten vier Zeilen des Gedichtbandes aus Immernie „Reisevermerke I (Groschlattengrün)“, an den Schluss. Lyrik lebt von Paradoxien, ebenso wie die Auseinandersetzung mit ihr.
„Immer vorüber an Groschlattengrün
Im bayrischen Wald. In der Höhe
Die zerschnittene Bläue des Landes
Im Rippenkerker der Dorn.
Und vorn der Klabauter Wien
Und Hebammerich Berlin so vorn
Mazdageschnurr des Sehnsuchtsbrandes
Manon da und dort und wehe.
Und stoppt der Atem. Ein Grinsen.
Golden die Sonne auf Groschlattengrün
Auf seinen hübschen Fenstersimsen.“
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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.