Ich verstehe Ihre Frage so, daß es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? … Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Walter Ulbricht
Dieses Statement schwurbelte der DDR-Staatsratsvorsitzende am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz auf die Frage die Journalistin Annamarie Doherr von der Frankfurter Rundschau daher. Am 13. August unterbrachen die herbeizitierten Bauarbeiter ihre Arbeit am Wohnungsbau und arbeiteten andere Statikpläne aus. Der SED-Parteichef wollte stets das Beste: Für die Partei, die Genossen, für die Kinder und vor allem – selbstverständlich uneingestanden – für sich. Aufstieg, Ansehen, Erfolg, Wohlstand, Liebe; in dieser Reihenfolge. Und es ging fehl. Folgt man dem Zeithistoriker Dietrich Staritz, so ist dieser 13. August die Realisierung einer Perspektivmaßnahme: „der heimliche Gründungstag der DDR“ .
Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.
Sollte der Protagonist der Arbeiterbewegung, Karl Marx, mit seinem lumpigen Dialektik am Ende doch noch Recht haben, so stellt A. J. Weigoni in seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zur Rezeption dieses Romanciers gehört es seit seinen Zombies, daß man seinen Humor meist nur in der Form der Ironie erkennt, die meist etwas Distanzierendes, etwas Überlegenes hat. Sieht man genauer hin, so hat Weigoni zu seinen Figuren kaum Distanz. Und er macht sich nie über sie lustig. Wenn es dennoch bei ihm immer wieder hochkomische Situationen gibt, so ist das, wie bei seinen Novellen Cyberspasz, als Groteske angelegt. Die Absurdität ergibt sich nicht daraus, wie Weigoni erzählt, vielmehr rührt aus den Situationen selbst, in die die Menschen meist unfreiwillig geraten oder sich schlimmstenfalls sogar freiwillig begeben.
Und der Zukunft abgewandt
Weigoni arbeitet noch an einem Soziopsychogramm des Mauerfalls. Jeder Gegenwartsroman ist ein Zeitgeistdokument, sie machen einen Ausschnitt sozialer Debatten und gesellschaftlicher Interaktion lesbar. Wir lesen in diesem Faktizitätsanspruch Poesie als Kreuzungspunkt von Politik und Literatur. Dies garstig Lied setzt sich dem Zwiespalt aus, ob Dichtung ein angemessenes Medium für Politik ist, und Politik ein angemessener Inhalt für die Dichtung. Die Antithese deutet auf das Problem der Literatur hin, das sich engagierte Literatur notwendigerweise von der Realität abgesetzt, die Differenz von dieser jedoch durchstreicht.
Geschichte entsteht dort, wo die Unvollkommenheit der Erinnerung auf die Unzulänglichkeit der Dokumentation trifft.
Patrick Lagrange
Quod erat demonstrandum: Zwischen November 1989 und März 1990 wird die deutsche Geschichte vom Druck der Ereignisse komprimiert. Weigoni erzählt eine Desillusionierungsgeschichte der dahindämmernden Bundesrepublik, die es gleichfalls durch die Wiedervereinigung nicht mehr gibt. Als meisterlicher Seismograf existenzieller Erschütterungen erzählt Weigoni diese Liebes- und Untergangsgeschichte mit leichter Hand, sprachspielerisch, ironisch und doch kunstvoll. Und nicht einmal das, was an der deutschen Geschichte so bleischwer ist, kommt an keiner Stelle in diesem Roman so daher.
Geschichte, nicht nur Literaturgeschichte, verschwindet unter anhaltend Gegenwärtigem.
Jan Kuhlbrodt
Poesie und Politik, das sind die Pole, zwischen denen dieser Roman oszilliert. Dieser Romancier verdichtet Realitätsfragmente zu Poesie. Seine Methode ist nicht die des Schocks, das Heraufbeschwören eines proletarisch-revolutionären Ideals oder der Provokation; er sucht nach der Evidenz poetischer Bilder, wenn er den Finger auf die Wunden seiner Figuren legt. Dieser Roman demonstriert, wie Weigonis Erzählen funktioniert. Wenn er einerseits eine ganze individuelle Erfahrung und Empfindung wiedergibt, steht er doch zugleich für das Übergreifende.
Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger.
Dieser Romancier artikuliert ein nichtpropagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich angenehm abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. In Abgeschlossenes Sammelgebiet durchdringt er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel, zeigt Widersprüche auf, und weist poetisch aus, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten. Freiheit und Toleranz liegen nicht allein in klassisch westlichen Vorstellungen, sie können sich gerade untergründig in einem bewußten Umgang mit Traditionen offenbaren. Der sogenannte Antifaschistische Schutzwall erscheint als Metapher für den Kollektivwahn, der am 9. November 1989 zum Ausbruch kommt.
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Vorankündigung für: Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover
Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.