Franz Kafka, tschechischer Klassiker

Jede Zeit, jede Generation, jede Gruppierung im intellektuellen Kräftefeld hatte und hat ihren eigenen Kafka“, denn „Literaturwissenschaftler stehen in der Kulturindustrie nicht weniger unter Innovations- und Profilierungsdruck als die Fahrzeugkonstrukteure in der Automobilindustrie“.

Thomas Anz

Sprechen wir hier von einem in Deutschland unbekannten, weil unübersetzten tschechischen Namensvetter und Doppelgänger jenes Dichters, der vom Schloß bis zum Prozeß, von der Strafkolonie bis zur Verwandlung unvergleichliche und unsterbliche Wortkunstwerke geschaffen hat?

Nein, mitnichten – Franz Kafka ist nun einmal einmalig. Einmalig ist aber auch die Geistes- und Gemütsverwirrung, die in Kopf und Bauch mancher Zeitgenossen/–innen herrscht. Der Bauch ist hierbei zumindest mitbeteiligt, mit einem guten Schuß unbewußter gefühlsgeladener Peristaltik, mit hysterischem Bauchgrimmen und Flatulenzen. Denn die Kopfgeburten, die hier in die Welt gesetzt werden, sind mit Kategorien des rationalen kritischen Denkens nicht mehr zu fassen. Wir, die wir Franz Kafka als jüdischen Deutschen aus Prag kannten, als Symbolfigur für das reiche Geistesleben einer Stadt, die bis 1938 zweisprachig und kosmopolitisch  war und erst 1945 mit der mörderischen Vertreibung der Deutschen durch tschechische Chauvinisten monokulturell verarmte (der bürgerliche Schreibtischmörder Benesch Hand in Hand mit den pseudokommunistischen Handlangern Stalins) –  wir werden nun belehrt, Kafka sei Tscheche gewesen.

Sie glauben nicht, daß jemand solchen Unsinn denkt und schreibt?

Ich hatte das auch nicht für möglich gehalten, mußte mich aber eines Schlechteren belehren lassen, als ich im vergangenen Jahr im Netz auf der Seite www.zitante.de unter dem Zitat des Tages las: „Franz Kafka, österreichischer Romanautor tschechischer Herkunft“. Diese Seite wird von einer sehr belesenen Enthusiastin gestaltet und bietet auf dem Feld des Aphoristischen immer wieder lohnende (Wieder)Entdeckungen. Um so fataler, wenn eine solche gebildete Frau nicht einmal das ABC der Entstehung und Entwicklung von Kunst und Kultur und der europäischen Geschichte beherrscht und sie womöglich aus Joseph Conrad einen polnischen und aus Heinrich Heine einen französischen Dichter machen würde. Um so repräsentativer aber auch für die Geistesverwirrung in Deutschland und für das geistige Elend als Frucht der politisch-kulturellen deutschen Misere, wenn in der Antwort auf meinen Protestbrief unter Berufung auf Wikipedia (für manche eine Art Bibel 2.0 !) angeführt wird, Kafka habe sich nie zu seiner „Nationalität“ geäußert – als ob es hier nicht um ein weltliterarisches Werk, um ein essentielles Element der deutschen Sprache, Literatur und Kultur ginge, sondern um Franz K.s privateste Paßprobleme und Identitätsunpäßlichkeiten! Des weiteren wurde eine Fortsetzung der Diskussion damit abgelehnt, daß nun auf der Zitante-Seite Kafka als „deutschsprachiger, jüdischer Romanautor“ aufgeführt werde. Taucht Orhan Pamuk dort in Zukunft als „türkischsprachiger, muslimischer Romanautor“, Aziz Nesin als „türkischsprachiger, atheistischer Prosaautor“ auf? Werde ich auf der Zitante-Seite, wo sich Aphorismen von mir finden,  als „deutschsprachiger,  evangelisch getaufter Autor“ geführt? Nein, ich bin dort einfach ein „deutscher Autor“. Spürt „Zitante“ nicht den Nachhall der antisemitischen Brandmarkung in der Schubladenbezeichnung für Kafka – mit einer typischen Grauzone zwischen religiöser, ethnischer und „rassischer“ Volkslisten-Zuweisung?

Ich verwette mein letztes Hemd: Kafka, wenn er denn könnte, würde aus dem Grab steigen, einen Band II des „Prozesses“ niederschreiben und denen den Prozeß machen, die ihn hundert Jahre später neu erfinden wollen – hineingezwängt in das Prokrustesbett politischer Korrektheit und deutscher Selbstverneinung.

 

 

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Ein Hinweis auf das Geamtwerk von Rolf Stolz: WOLFSSEKUNDEN. Kurze Prosa 1995-2010. WERKE Band 1“, mit einem Nachwort von Nikolaus Gatter (367 Seiten, fester Einband, 22 x 17 cm, 24,90 €, ISBN 9783746092430).

Wolfssekunden ist nach Der Unvermiderte (1991 bei Dipa in Frankfurt am Main), Der Abschiednehmer (2003 im Verlag Freiburger Echo in Freiburg im Breisgau) und Gwalt (2010 im KIDEMUS Verlag, Köln) Rolf Stolz vierter erzählender und prosaischer Band. Es sind einfache Geschichten über Menschen und ihre Schicksale, meist zwischen 1900 und 1999, zwischen Deutschland und der Nirgendwo-Welt angesiedelt. Diese Prosa bewegt sich zwischen Traumphantasien, (auto)-biographischen Fragmenten, Kurzkrimis, Parodien, Historien und Legenden bewegen sich diese Texte durch Zeit und Raum.