Die reale Welt der Dörfler im Banat

 

Es ist ein raffinierter Erzähler, der mal aus kindlicher Perspektive, mal aus der Sicht eines allwissenden Chronisten berichtet, mal auch in die Rolle eines unzuverlässigen, ja sogar naiven Erzählers schlüpft, wenn er sein Hinterland, die dörfliche Welt des Banat, beschreibt. Und in dieser rustikalen Welt, die sich der sozialistischen Denk- und Handlungsweise annähern soll, tummeln sich Figuren, die aus der Sicht des so wendigen Erzählers mit wunderlichen, mitunter skurrilen Eigenschaften ausgestattet sind. Wie zum Beispiel der ungarische Schafhalter Mikulasch, ein Mann unbestimmten Alters, mit roten Backen und einem verwilderten Bart, der scharf nach Schafstall riecht. Oder der junge Schrameck, ein begnadeter Trompeter, der bei verschiedenen feierlichen Anlässen politisch nicht opportune Lieder bläst und deshalb von den Parteioberen misstrauisch beäugt wird. Aber bei besonderen Anlässen, wie der feierlichen ersten Fütterung der Wunderkühe aus dem kapitalistischen Holland im staatlichen Kuhstall, ist er gefragt. Weil seine Trompete so machtvoll die stümperhaften Hurraschreie der Dorfbewohner bei der Generalprobe übertönt. In der Zwischenzeit, bevor die großen Tiere in ihren Wolgas kommen, hat der Parteisekretär vom Rayon, der Genosse Marcu, alle auf Vordermann gebracht. Auch die Melkerinnen, die Tierpflegerinnen und die Dorfältesten, denn Ordnung und Hygiene müssen sein. Zusammen mit dem Agronom und dem Tierarzt sorgt er deshalb dafür, dass alle einen weißen Kittel anziehen, ihre Haare waschen, sogar ihre Fingernägel polieren. Auch die Gegenstände rund um den Kuhstall müssen dran glauben: sie werden geweißt, denn, so Marcu, Kalk ist gesund und gut gegen jegliches Ungeziefer.

Doch die reale Welt der Dörfler im Banat steht im krassen Gegensatz zu dieser erzwungenen verkalkten Ordnung. Sie bildet gleichsam eine Fassade, hinter der sich das eigentliche Leben abspielt. Und über diese Menschen, die Nachfahren der schwäbischen Einwanderer aus der frühen Neuzeit, aber auch rumänischer und ungarischer Herkunft, manchmal auch Umsiedler aus der Sowjetunion sind, weiß der Erzähler viel mehr Bescheid als die Offiziellen, die aus dem rumänischen Kernland in die nordöstliche Provinz geschickten Aufpasser. Manchmal sogar streicht sein Blick wie auf einem Röntgenschirm durch das Innenleben all dieser von einem jämmerlich tristen Alltag gequälten Menschen. Wie in den sechs Episoden, die unter dem Titel Nachtzug aus der Perspektive der Dörflerin Katharina aus Nitzkydorf, dem Geburtsort des Autors, die triste Welt der Männer beschreiben, die irgendwohin zur Arbeit fahren, übermüdet, mit leeren Blicken. Und wenn im Morgengrauen sich die Konturen der flachen Landschaft abzeichnen, dann erfasst sie der Erzähler so: „Am Rande der Stadt stehen wüste Friedhofe. Massengräber, blumenlose, graslose. Die gefallenen Fabriken mit ihren tausend amputierten Gliedmaßen. … Die Landschaft ist hier eine Krankheit. Der Fluss ist schwarz. In der Bersau schwimmen kleine, ölbefleckte Leichen.“ (S. 136f.) Er ist überhaupt ein omnipräsenter auktorialer Erzähler, dem es gelingt, immer wieder aus der Weltwahrnehmung seiner Personen einige wenige Augenblicke aufzuzeichnen, so wie Katharina beim verschwommenen Blick auf die vorüber fliegenden traurigen, kahlen Hügelkämme ihr Leben reflektiert, das „wie ein fremder, verschlissener Vorhang aus dem Hals“ hängt.

Je länger sich der Leser in diese dörfliche Welt am Rande von industrialisierten Landstrichen vertieft, desto mehr vergeht ihm das kichernde Lachen über die skurrilen, vom Schicksal geschlagenen Zeitgenossen, desto mehr wird ihm bewusst, wie die Überlebenden des Russlandfeldzuges und die vielen nach Russland deportierten Deutschen unter der Erinnerungen an ihre toten Verwandten und ihre eigenen Erlebnisse leiden. Mehr noch: wie sie sich im rumänischen kommunistischen Regime durchschlagen müssen. Egal, ob es alte Nazis waren, ob sie auf Gedeih und Verderben dem nationalkommunistischen Staat dienen, mit dem roten Parteibüchlein in der Hosentasche, wie der harmlose rotnasige Farmleiter im Niemandsland oder der hinterlistige Parteisekretär Brumaru, oder die russischen Melker, die in den Baracken gleich hinter dem Dorf hausen, „zwischen Lumpen und Schafsfellen, auf den Matratzen voller Läuse.“ (S. 140) Doch der stets schweifende Blick des Erzählers entdeckt noch viel mehr: die Welt der benachteiligten Frauen, die, oft geschieden, sich mit einem kläglichen Lohn ihre Kinder durchbringen müssen; das mühselige Leben einer unverheirateten Lehrerin, die zum Gespött der Dörfler wird; eine Fantasie-Welt aus der jüngsten Vergangenheit, und die Suche nach einer tröstlichen Welt, wie in der abschließenden kleinen Erzählung, in der ein Rabe aus der Welt der dörflichen Ahnen auftaucht und die Dorfbewohner aus ihrem Schlaf wecken möchte. Doch vergebens. Selbst in den noch existierenden Kirchen, in denen die evangelischen, katholischen oder orthodoxen Gläubigen ihr Seelenheil finden, scheint die Erinnerung an die Ahnen im dörflichen Leben immer mehr zu schwinden. Noch sind es die Frauen, die in ihren Trachten und in bunten Häubchen da und dort die vorderen Reihen in Dorfkirchen füllen, während die Männer sich längst in die Dorfkneipen verzogen haben. Sicher aber ist, dass in den Dörfern des Banats mit ihrer einstigen deutschstämmigen Bevölkerung die tradierten Bräuche verschwinden, die Friedhöfe veröden und sich eine ethnisch gemischte Bevölkerung ansiedelt.

Das Fazit des Autors, der in einem Banater Dorf aufgewachsen ist und deshalb mit dieser Welt von Kindheit an mit allen Nuancen vertraut, ist trotz seines bodenständigen Humors von Melancholie und Trauer bestimmt. Er ist der letzte heute in Temeswar lebende Vertreter der „Aktionsgruppe Banat“. Sie musste sich Mitte der 1970er Jahre auf Druck der rumänischen Behörden auflösen und ihre Vertreter haben in der Zwischenzeit in der deutschen und internationalen literarischen Öffentlichkeit einen bedeutenden Platz erhalten. Umso mehr Aufmerksamkeit sollte diesem Erzählband gewidmet werden, weil die in ihm auftretenden Figuren nun ein dörfliches Erbe antreten, das ihre schwäbischsprachigen einstigen Bewohner in mehr als vier Jahrhunderten geschaffen haben und das nunmehr einer neuen Art von multikulturellen Gemeinschaft weichen muss. Die Figuren in Waitz’ fiktionaler Welt übernehmen gewisse Traditionen, wohnen teilweise in den verlassenen Häusern und bedienen sich auch bestimmter überlieferter kultureller Bräuche. Ob sie die sich herausbildende dörfliche Mischkultur mit ihren unterschiedlichen Sprachgruppen mit tragfähigen Werten versehen, könnte sich in dem hier vorliegenden Erzählbandes bereits abzeichnen. Auf jeden Fall führt der Autor den Leser aus der nationalkommunistischen Welt des späten Ceauçescu-Regime hinüber in postkommunistische Lebensweisen, vermittelt ihm die Denkart der kleinen Leute, macht sich lustig über die erstarrten Rituale vor allem der Männerwelt, hat keine Scheu vor der Benutzung auch ungarischer oder rumänischer Begriffe und schafft auf diese Weise ein eindrucksvolles Panorama einer randständigen Mischkultur, die viel lebendiger als manche Monokultur ist.

 

 

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Krähensommer und andere Geschichten aus dem Hinterland, von Balthasar Waitz. Temeswar (Cosmopolitan Verlag) 2011, 205 S., ISBN 978-973-8903-97-5