Kunst trainiert die Wahrnehmung

Vorbemerkung der Redaktion: Die Weltpremiere von Drumming fand am 3. Dezember 1971 im Museum of Modern Art in N.Y. statt. Im kommenden Jahr wird ein Reissue von Drumming bei der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

Vor Jahren glaubte sich die Videoclip-Versendestelle MTV dadurch besonders hervorzutun, das sie ein Konzert von Rock-Musikern „Unplugged“ aufnahm. Wir übersehen mal gelassen, das auch ein Mikrophon und die Übertragung der Klänge ein komplexes elektronisches Instrument ist.

Die pop-puläre Musik war, wie bei jeden neuen Welle als No. 2 zur Stelle. In einer Ära des Kurzzeitgedächnises sind Steve Reichs Kompositionen, in weiten Teilen – technisch betrachtet – das prähistorische Urmodel all dessen, was man inzwischen als Loops, Samplings undsofort bezeichnet. Entsprechend zeichnen sie sich vor allem durch zwei Hauptstrukturmerkmale aus: Zum einen repetitive, fast schon Mantra-gleiche Strukturen, welche durch ein Abfolgen in konstanter Wiederholung kleinster melodischer, rhythmischer oder harmonischer Teile entsteht. Und das sogenannte Phase-Shifting, eine Phasenverschiebung dieser molekularen Einzelteile in verschiedenen Stimmen, die einen dicht gewebten Klangteppich kreieren, in dem Rhythmen miteinander verknüpft werden. Und vor Erfindung des Syntheziser ist alles mit analogen Instrumenten eingespielt. Auch hier braucht es für die Sänger Mikrophone.

In den 1970er Jahren lernte ich ein paar Freaks kennen, die sich mit dem Canterbury Sound, also Bands wie Caravan, Gong oder Soft Machine, die das schlichte 4/4 der Rockmusik in den Jazz erweiterten. Eines Abend brachte jemand Drumming von Steve Reiche mit und so hörte ich bekifft zum ersten Mal etwas was ich erst später als „Neue Musik“ einordnen konnte. Wir hörten in einem Raum, der sonst als Partykeller genutzt wurde Trommelschläge, die sich polyrhythmisch überlagern und in einem diffusen Klangrausch münden, bis nichts mehr Sinn ergibt, falsch, bis eigentlich alles Sinn ergibt. Es ist eine psychoakustische Verwirrung zwischen Hypnose und Musikanalyse, welche die Musik des US-amerikanischen Komponisten Steve Reich auch ohne das Zuführen von Haschisch faszinierend macht. Das von vier Schlagzeugern performte Drumming, bei dem die Musiker zunächst unisono eine rhythmische Abfolge spielen. Und sich im Verlauf der Komposition Bongos, Marimbas, das Glockenspiele, sich im vierten Satz vereinen und das auf zwölf Köpfe angewachsenen Ensemble zu einem Feuerwerk aus Rhythmus und Licht, aus Energie und Ekstase vereint. Ich werde nie dem Moment vergessen, als das Stück ausgelaufen war… sich die Nadel des Plattenspielers verhakte und die Kumpels dachten, dies gehöre noch zur Komposition…

Das Anhören nach langer Zeit ist weniger ein Trip in die verblühte Jugend, vielmehr eine Reise in die jüngste Musikgeschichte. Auf der Doppel-CD der Deutschen Grammophon finden sich auch, die Komposition Six Pianos und Mallet und man kann nachvollziehen, wie sich ein Künstler weiterentwickelt, bis er reif war für Music for 18 Musicians. Letztgenannte Komposition besteht vor allem darin, Komplexität und Komplexitätsreduktion gleichzeitig zu erzeugen. Es ist ein hochkomplexes Gitter aus vielfältigsten rhythmischen Strukturen. Die modulare Struktur ohne tonales Zentrum ist ein stetig pulsierender Prozessmusik. Die Zuhörer werden zum selektiven Hören herausgefordert, ständig zwischen erhöhter Konzentration und Trance changierend, immer der nächsten subtilen Tonveränderung hinterherjagend. Vibraphone, die minutenlang ein kurzes melodisches Motiv wiederholen, Violinen, die es aufgreifen, ergänzen und anschliesssend an die beiden Klaviere zurücksenden, bis das ursprüngliche Motiv nur noch eine abstrakte Erinnerung ist, bevor die Vibraphone es wieder adaptieren. Es ist gleichsam eine Strukturlosigkeit mit Drang zur Veränderung. Rhythmisch betrachtet werden zwei unterschiedliche Arten von Zeit eingesetzt, die gleichzeitig auftreten. Der erste ist der eines regelmässigen rhythmischen Pulses in den Klavieren und Schlaginstrumenten, der sich im gesamten Stück fortsetzt. Der zweite ist der Rhythmus des menschlichen Atems in den Stimmen und Blasinstrumenten. Der Atem ist das Mass für die Dauer ihres Pulsierens. Diese Kombination von einem Atemzug nach dem anderen… die sich allmählich wie Wellen gegen den konstanten Rhythmus der Klaviere und Schlaginstrumente anwallen… ist eine Musik, die ein- und ausatmet… an einen lebendigen Organismus erinnert… der weiss, dass ihn nur der Herzschlag und sich stetig wiederholte Atemzüge am Leben erhalten können.

Selten gelingt es Musik, Kunst und Leben in eins zu denken.

 

 

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Drumming von Steve Reich. Reissue Deutsche Grammophon 2012

Der Autor versucht sich an „Electric Counterpoint“ von Steve Reich

Weiterführend → Meine erste Schallplatte: „Heart of glass“ von Blondie, vorgestellt von Martina Haimerl. Life circles at 33rpm!, postulierte Mischa Kuball. Wer sich hinter „Mister B“ verbirgt, beschreibt Christine Kappe. Ergänzen ein Artikel zum Kassettenuntergrund. »Don Juan« von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich, vorgestellt von Joachim Feldmann. Eine Reise ins Glück von den Lilians, vorgestellt von Ju Sophie Kerschbaumer. „This charming man“ von den Smiths vorgestellt von Haimo Hieronymus. The Fall – Big New Prince vorgestellt von Enno Stahl. Dschäääzz!!!, gehört von Eva Kurowski. Helge Schneider ist wahrscheinlich der bislang einzige Solo-Künstler, der gleich mit seiner ersten Platte den Titel Seine größten Erfolge gab. Begleitet wurde er bei den Aufnahmen durch Tonmeister Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Meine ersten drei Platten, vorgestellt von Marcus Baltzer. Meine Musik, vorgestellt von Ulrich Bergmann. Mit etwas Verspätung erschien Pia Lunds zweites Solo-Album Gift. Smile war für A.J. Weigoni ein Versprechen. Eine Generation später wurde es eingelöst. Selbstverständlich auf Vinyl. Und in Mono. Eine Wiederveröffentlichung der Neu!-Studioalben ist auf dem Label Grönland erschienen. in 1999 ging KUNO der Frage Label oder available? nach. Einen Remix zu basteln ist in der Popmusik gang und gebe. Stephan Flommersfeld hat das Selbe mit der “Letternmusik” gemacht.

→ Wenn es Videoclips gibt, muss auch die Literatur auf die veränderten medialen Verhältnisse reagieren.“, postulierte A.J. Weigoni 1991 und erfand mit Frank Michaelis das Hörbuch. Erweiternd zum Medium der Compact Disc auch der Essay Press/Play.