Gar nicht so wenige Autoren sonnen sich – offen oder insgeheim – im Spiegel ihrer angenommenen Bedeutung und gehen ein wenig unter dem Parasol ihres Stolzes einher. Das führt gern einmal zu massiven Fehleinschätzungen, die zu einem langen Abstieg nach kurzem Flug an den Hängen des Parnassos’ vorbei führen oder zum unendlichen Anhören der wieder- und wiedergekäuten Vorurteile der Kritikerkaste in ermüdenden Fernsehgesprächen, die traurige Werbeveranstaltungen für irgendein zu protegierendes Buch sind.
Der Autor, um den es hier geht, konnte mit all dem nicht viel anfangen – er war weder telegen noch besonders antwortfreudig – und doch hat sein ungeheuerliches, in großen expressiven und surrealistischen Schleifen zu sich selbst findendes Werk die Gemüter in unserem traurigen Doppeljahrhundert, wenn auch spät, zu erregen gewusst. Tatsächlich: immer zwingender stellt sich die Werkausgabe des 2007 in Berlin gestorbenen Wolfgang Hilbig nicht nur als optische Augenweide, sondern vielmehr als Standardausgabe dessen dar, was eine literarische Existenz unter den zunächst denkbar ungünstigsten Bedingungen am Ende der Ismen und Visionen zu leisten vermag.
Von einigen Lässlichkeiten im Serviceteil vorangegangener Bände abgesehen, die der Deklarierung des Vorhabens als Lese-Edition geschuldet sein dürften, formiert sich, in der Mitte der Bände angelangt, das Resultat als unübersehbar im Bücherregal, nimmt der Gedanke, dass es sich um die – vollständige, will man hoffen – Kollektion eines der letzten großen Dichter der vielbeschworenen Nachmoderne handelt, der postum geehrt wird, berührende Gestalt an. Es fügt sich in ihrer schrittweisen Vervollständigung ein mehr und mehr komplexeres Bild eines im wahrsten Sinne ‚erlittenen‘ Werkes eines Vereinzelten und monomanen Sprechers, dessen Stimme ungehört geblieben wäre, hätte es nicht dank ‚glücklicher Fügungen‘ Ende der 1970er-Jahre doch ins Licht gefunden, ihm zunächst Scherereien, schließlich aber Ruhm eingebracht.
Auch in seinen Romanen: „Eine Übertragung“, dem der vorliegende Band gewidmet ist, „Ich“ und „Das Provisorium“ hat Wolfgang Hilbig sich dieser Verlorenheit auf seine unnachahmliche, insistierende Weise genähert. Ein Verzweifelter, durch seine Existenz-Bestimmung als Literat ins Zwielicht Geratener sucht auf dreierlei Weise einen Ausweg aus eben dieser Misere. Er gerät in der „Übertragung“ ins Gefängnis und in den Sog eines Mords, von dem er irgendwann selbst nicht mehr weiß, wer ihn geplant haben könnte. In „Ich“ verleiht ein Schriftsteller sein Gewissen an den Geheimdienst und wägt fürderhin zwischen dem Maß der Verderbtheit des einen wie des anderen, während sich im „Provisorium“ die gewonnene Freiheit als die größte Bedrängung und als Einsamkeits-Motor erweist. Der Held versinkt in Suff, Liebeskummer, Affären und Zorn.
Jeder der Hilbig’schen Romane spielt mit dieser Verwischung von ‚Ich‘ und ‚Man‘ – in der „Übertragung“ steckt sich der schriftstellernde Arbeiter C. in der Untersuchungshaft mit der Tat seines Mithäftlings an, als dieser ihm bei einem Abschiedskuss ein Kassiber im Mund hinterlässt. Eben jener Mordplan löst eine Kette Verwechslungen aus – aus C. scheint zunehmend Z., sein Mitinsasse, zu werden, das Ich des Erzählers löst sich mehr und mehr auf. Es kommt zur Anzeige, zu Verhören, und schnell dreht sich die Frage darum, wie es möglich sei, Arbeiter- und Künstlerschaft auf eine Weise zu einen, dass man nicht mehr von einer „Schwarzarbeit“ in der „Magie der Gefangenschaft“ wie auf der Plattform des schmalen Draußen spricht.
Auf der Fährte der Unwägbarkeit geht sich der Erzähler immer mehr selbst verloren, er tendiert von einer Vagheit zur anderen, er fürchtet seine Entschlüsse und treibt sie zugleich voran. Diese Verlorenheit, Hilbig registriert sie in seinem zweiten Gedichtband titelgebend als „versprengung“, verfolgt den Autor wie seine Protagonisten bis ans Ende seines Werks, anhand der gesammelten Ausgabe wird sie noch einmal als geradezu emblematisch sichtbar gemacht. Da waren sie, die Arbeiterdichter, die sich die DDR-Kulturführung gewünscht hatte. Keinem ihrer bedeutenden Vertreter, neben Hilbig sind Bernd-Dieter Hüge und Werner Bräunig zu nennen, ist sein Talent seinerzeit sonderlich gut bekommen. Selten scheinen Ironie, gar Hoffnung auf in diesen Texten – bei Hilbig etwa nach der Wende, in „Pro domo et mundo“, einem seiner großen ‚letzten‘ Gedichte: „denn es ist Nacht und Zeit daß du dich wandelst.“
Hilbigs Romane bezeugen nicht ganz seine Meisterform wie die Lyrik, vor allem aber die kürzere Prosa der 1970er- und 1980er-Jahre. Sie sind schwer errungen, Seitenkapellen der einzigartigen Begabung, die ihn trieb. Aufgrund seiner sprachlichen Geballtheit wird sein Debüt-Roman, kurz vor Erscheinen 1989 mit dem Bachmann-Preis geehrt, weiter ein schwieriges Stück Literatur bleiben, das nun in den „Werken“ die endgültige publizistische Präsentationsform wohl gefunden hat.
Wer sich indes auf dieses, nach Wittstock, „Netz … des Ungefähren“ einlässt, sollte mehr als sprachlichen Gewinn davontragen. Denn: nicht von ungefähr verweist „Eine Übertragung“ stilistisch auf das bedeutendste Stück Prosa, das der Autor verfasst hat. Wie in der Novelle „Alte Abdeckerei“ (1991) gerät der Schluss des Buchs in einen Sog der Sprachskandierung, ausgelöst durch das Krächzen der Krähen. Dort Echolalie, ist es hier Aufbegehren, es kulminiert im Roman im (dank Klagenfurt berühmt gewordenen) fünffachen „Ach!“-Ausruf des Protagonisten.
Wie in allen Bänden ist dem Buch ein Nachwort durch einen Hilbig-Freund beigegeben, und so wird die „Übertragung“ denn durch Jan Faktor als einer der schwärzesten Krimis der letzten Jahrzehnte gewürdigt. Der eigentliche Gewinn der Edition aber besteht in der Mitteilung der ersten Version des Roman-Stoffs von 1982 im Anhang, die, zunächst 22 Seiten stark, über drei weitere Fassungen auf die stattliche Stärke von fast 400 Seiten anwächst. Diese Mitteilung verdeutlicht klar, wie tief Hilbigs Roman-Werk dann doch in seinen kürzeren Formen wurzelt und auf welche Weise dieser Dichter sich dem Thema, das ihn umtreibt, auf langen Wegen nähert.
***
Weiterführend → Lesen Sie auch das KUNO-Porträt des Lyrikers André Schinkel.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.