Lyrikkalender, das erinnert an die Abreißkalender, die in den 1960er Jahren verteilt wurden. Jeder Tag wurde zur geistigen Erbauung mit einem Sinnspruch belegt. Welche freudige Überraschung jedoch, als ich den Tischkalender des Verlegers Shafiq Naz von Alhambra Publishing in die Hand bekam:
„Lieben Sie Gedichte?“ spricht mich der Verlag auf der stabilen Rückseite des hervorragend aufgemachten Kalenders an – und antwortet umgehend, da der Verleger meine Antwort anscheinend zu kennen scheint: Wir auch! – stillschweigend voraussetzend, daß Sie naturgemäß Gedichte schätzen und lieben. Denn welcher Mensch liebt nicht die Sprache der Lyrik, die ihn doch lebenslang in allen lustigen und allen unheilvollen Lebenslagen begleitet, die ihn ständig umgarnt und umgibt: die Sprache der Lieder und Songs, die Sprache der Vögel und Vierbeiner, die Alltagssprache der Stuben und Straßen, die Sprache der Küchengeräte und Autos, die Sprache der Sterne und Wolken, die eigene, die fremde Sprache des Scherzes, des Schmerzes (nicht zu vergessen die vielen Fachsprachen) – alle voll von schier unendlichen Alliterationen und phantastischen Metaphern, angereichert mit gekreuzten und gepaarten Reimen, lautmalenden, knirschenden Wörtern, wie ich an anderer Stelle über den Kalender lese.
Mein Problem beginnt damit, daß sich die gebotene Vielfalt kaum würdigen läßt. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflusst die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Wenn man jemanden hervorhebt, benachteiligt man den Einen oder die Andere.
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Lyrikkalender 2012, Hg Shafiq Naz, Alhambra Publishing, B-Bertem, 2012
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Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.