Das Künstlerbuch – ein Balanceakt zwischen Illustration und Imagination

Delectare et prodesse.

Horaz

Sprechen wir über Künstlerbücher, dann geht es um hybride Artefakte. Etwas zwischen einem Buch und einem Bildwerk, das zwischen erbaulichem oder unterhaltendem Gebrauchsgegenstand und dem reinen Dasein; zwischen Bedeutungsübermittlung und purem Sinn-an-sich schwankt und hin- und herwabert. Ein Künstlerbuch ist der Versuch eines Künstlers, sich des textlichen Mediums zu bemächtigen und/oder sich der äußeren Form – mindestens zwei Buchdeckel, eventuell auch ein Buchrücken – als Rahmen für ein Konvolut an Einzelwerken, ob nun Blätter oder Collagen oder Objekte, zu bedienen. Künstlerbücher können wilde, chaotische und paradoxe Sammelsurien sein, oder aber wohlgeordnete, von deutlichen Geschichten und Spannungsbögen erzählende Zyklen. Und noch tausend andere Dinge dazwischen.

Kunst, sagte jemand mal, ist eine Art Sprache, und wenn man sich ihrer nicht bedienen müsste, weil es auch auf irgendeine andere Art und Weise ginge, dann würde man es nicht tun. Kunst als letzte Ausflucht? In der Tat ist Kunst nichts anderes als eine Sprache, deren Vokabular niemand genau kennt und deren Grammatik immer wieder neu erfunden wird. Gegen deren Gesetzmäßigkeit man nicht nur verstoßen darf, sondern sogar muss, damit sie weiterlebt. Die individuellste und lebendigste und doch kryptischste aller denkbaren Sprachen. Mysteriöser und für den Unwissenden, Uninteressierten hermetischer als ein Traum von Jorge Luis Borges. Und im besten Fall ist ein Künstlerbuch, die Akkumulation von Einzelkunstwerken, komplexer, offener, spannender und traumwandlerischer als dessen Bibliothek zu Babel, die unendliche, im wörtlichen Sinne universale Bibliothek.

Kunst ist ein Weg zur Welterkenntnis. Wie versucht man, die Welt zu erkennen, sie sich erklärbar zu machen?

Indem man sie rational, also sprachlich, also textlich fasst. Abfasst. Im Kopf kartiert. Bild und Sprache, Bild und Abstraktion, Bild und Buchstabe, Bild und Text, one leads to another. Viel könnte man nun erzählen über Spracherwerb, Bilderschrift, Hieroglyphen, Symbolik. Alles wäre erzählenswert, das meiste interessant, vieles richtig. Aber genug davon ist bekannt. Fakt ist: Der Buchstabe, das Wort, der Satz, der Text evozieren Bilder. Unausweichlich. Und das Bild erzählt eine Geschichte im Kopf. Es bedingt nicht umgekehrt den Buchstaben, das abstraktere Zeichen. Die darstellende Kunst erkannten schon Lessing oder Delacroix als eine direktere Form denn die über eine Vermittlung durch das Medium der Schrift. Gleichzeitig erfordert Letzteres eine höhere Imaginationsleistung des Rezipienten. Bücher, so heißt es, eröffnen Welten im Kopf. Bilder führen sie vor Augen. Abstrakte Bilder, abstrakte Kunst, stehen irgendwo dazwischen.

Das Künstlerbuch vereinigt, was jahrhundertelang gelehrter Streitapfel der Kunst und Kunstgeschichte blieb: Malerei (bzw. Graphik) und Text, Bild und Buchstaben, das Sinnliche und das Rationale. Und hieraus kann es erwachsen, das fruchtbare Dritte: Beides bewahrt sich seine Eigenständigkeit, im besten Falle bedarf es einander nicht, damit sich das Werk erkläre, und doch bildet sich durch die Fusion zweier starker Ausdrucksformen – best of both worlds – etwas Neues, Eigenes und trotzdem Hybrides, seine Herkunft nicht Verleugnendes. Etwas, das uns bildliche wie sprachliche Welten eröffnet, uns intellektuell und sensuell stimuliert, etwas, das man sich offen hinstellen, betrachten und erblättern oder zuklappen und ins Regal einordnen kann, das hoffentlich Leser zu Kunstrezipienten und Kunstliebhaber zu Lesehungrigen macht – so sie es noch nicht sind. Die eine Kunstform zu lieben heißt nicht, sie der anderen vorzuziehen. Leidenschaft ist teilbar und ver-teilbar, wenn sie nur stark und groß genug ist.

Und plötzlich sieht man Buchstaben als bildnerische Zeichen, entfalten die Kritzeleien eines Haimo Hieronymus ihre ästhetische Eigendynamik; erwachen die starken, kraft- und saftvollen Kopfbilder eines KAHOS oder die genussvoll-spitzen Sinngegendenstrichbürstungen eines A.J. Weigoni zu buntem Leben, tanzen vor den Augen und führen uns auf imaginative Abwege. Lässt man sich darauf ein, dann kann man sich dank Yannic Rossmann in bücher- und kistenweise sinnlicher Materialästhetik verlieren, sich Welten beim Blättern und Stapeln erspüren. Lässt man sich darauf ein, dann rückt uns Stephanie Neuhaus mit ihren tanzenden geometrischen Formen und schwarzwolkigen Druckspuren, mal streng, mal weich, immer gewitzt, den Kopf wieder zurecht.

Geht man auf das Wortspiel im Titel der Ausstellung ein, was einige der Künstler hier gerne getan haben, dann verbindet sie nicht nur das Papier, sondern auch ein Möbelstück. Oder ein Darreichungsbehelf. Regale sind nicht geschlossen, sondern für jedermann einsichtig und zugänglich. Anders als Schränke, führen sie nicht zu besitzdenkenbehaftetem Wegsperren und starren Schubladisierungen. Sie sind dynamisch, diskret und offen für Interpretationen und eigenes Zu- und Eingreifen.

Regalien sind auch, im eigentlichen Wortsinne, Geschenke. Ein Geschenk des Zuhörers und Betrachters an sich selbst ist es, wenn er sich auf das Spiel mit Sinn und Sinnlichkeit, Text und Textur einlassen kann. Die hinter den Zeichen, zwischen Regalbrettern und Buchdeckeln liegenden möglichen Welten, die Kopfreisen, Blätter- und Tasterfahrungen mögen einem jeden gegönnt sein.

 

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Regalien – Was uns verbindet, ist das Papier –

Künstlerbücher und Arbeiten aus dem Umfeld von
Pia Bohr, Almuth Hickl, Haimo Hieronymus, Karl-Heinz Hosse, Birgit Jensen, Stephanie Neuhaus, Ulrich Johannes Müller, Florian Müller, Yanic Roßmann und Denise Steger

Dauer der Ausstellung: 16.01 – 04.02. 2012
Werkstattgalerie DER BOGEN | Möhnestraße 59 | 59755 Arnsberg-Neheim

Finissage: 4. Februar 2012, ab 20.00 Uhr
mit der Verleihung des Künstlerpreises ‘Das Hungertuch’.
An: Denise Steger, bildende Kunst; Joachim Paul, Essay; Eva Kurowski, Musik.
Mit einer Lesung von Joachim Paul
+ einem Konzert von Eva Kurowski und Hartmut Kracht.

 

 

Weiterführend →

Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Künstlerbücher verstehen diese Artisten als Physiognomik, der Büchersammler wird somit zum Physiognomiker der Dingwelt.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421