Lose kunsttheoretische Gedanken
Als Kunstwissenschaftlerin muss man sich immer wieder die Frage stellen lassen, mal ganz provokant hingeworfen, mal schlicht dahergesmalltalkt, was das denn nun eigentlich sei, womit man sich da beschäftige. KUNST. Einerseits enervierend, sich rechtfertigen zu müssen für eine Materie, die dem Großteil der Menschheit ein wenig bis sehr fremd ist, da taucht im Hinterkopf schnell die Gegenfrage auf, was das denn eigentlich sei, womit sich andere Berufsstände so befassen, STEUERN etwa. Oder ERZIEHUNG. Andererseits zeichnet es die besagte Materie vor anderen aus, dass sie sich eben immer wieder befragen und diskutieren lassen kann und nicht einfach zum stummen Gesellschaftsrepertoire dazugehören will.
Im Folgenden einige aus gegebenem Anlass zusammengefasste Erklärungsansätze.
„Leberzirrhose ist keine Entschuldigung für schlechte Kunst“, so Martin Kippenberger. Doch gibt es überhaupt schlechte Kunst?
Laut Benedetto Croce impliziert nämlich die Definition eines Kunstwerks automatisch ein Werturteil. Wenn etwas als Kunst klassifiziert werden kann, dann deshalb, weil es eine ästhetisch gelungene Symbiose aus Form und Ausdruck ist. Somit kann es keine schlechte Kunst geben, sondern nur misslungene Versuche, Kunst zu schaffen. Anders sieht dies etwa der amerikanische Philosoph Nelson Goodman – für ihn ist der Begriff „Kunst“ in erster Linie neutral. Ein Kunstwerk zeichnet sich dadurch aus, dass es eine Art Symbol ist – etwas, das für etwas anderes steht. In seiner Kunst- und Zeichentheorie bezeichnet er Kunst als ein Zeichensystem, das sich aber von anderen Systemen dieser Art dadurch unterscheidet, dass es nicht einfach einen Gegenstand denotiert, sondern auf abstrakte Gegebenheiten, Gefühle oder Gedankengänge verweist, sie somit repräsentiert.
Mit dieser Ansicht grenzt Goodman an Theorien, die Kunst als eine Art Sprache oder Metapher sehen. Sie ist ein Hilfsmittel, um etwas zu vermitteln, was sich nicht in Worte oder andere Zeichen fassen lässt. Fragt man Künstler, so sind sie meist die schlechtesten Interpreten ihres eigenen Werkes (bei den guten sollte man misstrauisch sein, sie sind oft Verkäufer) und das nicht, weil sie beschränkter wären als andere Menschen (oder nur in einigen Fällen), sondern weil sie das, was das von ihnen geschaffene Werk darstellt oder repräsentiert oder auch – um dieses unselige Wort zu verwenden – ausdrückt, sich nicht anders fassen lässt als eben in genau der Form, die sie gewählt haben. Die sie vielleicht nicht einmal gewählt haben, sondern die sich ihnen aufgezwungen oder des Werkes, des Materials bemächtigt hat. Und wir, die wir über Kunst reden, können das Werk immer nur näherungsweise erfassen, können immer nur Versuche unternehmen, es linkisch in unsere Sprache und unsere Gedanken zu übersetzen. „Kunst ist eine Lüge, derer wir uns bedienen, um mit ihrer Hilfe der Wahrheit ein Stück näher zu kommen“, so Picasso. Insofern ist Kunst nicht bloß ein Kommentar zu unserer Welt – sie erzeugt sie erst.
Um noch einmal auf das eingangs Gesagte zurückzukommen: In Sydney ist vor einiger Zeit ein Museum für schlechte Kunst eröffnet worden. Dass der Begriff „schlechte Kunst“ zweifelhaft ist, habe ich bereits erwähnt – aber warum erscheint uns diese Meldung an sich so paradox? Sind wir es nicht gewohnt, das, was im Museum steht, als Kunst-, wenn nicht gar Meisterwerk seiner Gattung anzusehen bzw. anzustaunen? Erhebt nicht das Allerheiligste des Museums ein Werk erst so recht in den Zustand unbezweifelbarer Großartigkeit?
Auch diese Theorie ist zur Beantwortung der Frage, was Kunst sein mag, herangezogen worden: Kunst ist das, was im Museum steht, überspitzt gesagt. Solches erkennt sogar der Laie und rennt als Kulturtourist dem hinterher, „was man gesehen haben muss“. Documenta und Biennale in Venedig haben niemals so viele Besucher registriert wie in den vergangenen Jahren, Blockbuster-Ausstellungen aus MoMA, Guggenheim und Museée d’Orsay gehen auf Erfolgstournee durch Europa und Leonardo da Vincis Abendmahl in Santa Maria delle Grazie ist dank Dan Brown auf Monate hin hoffnungslos ausgebucht. Ich als Kunsthistorikerin werde einmal vom Kulturbetrieb leben müssen und freue mich einerseits über ein Interesse der Menschen. Doch ärgere ich mich, wenn ich die Kehrseite dieses Booms betrachte: Kunst wird nicht mehr erlebt, nicht mehr gesehen, sondern konsumiert. Es geht nicht darum, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen, sondern einen Blick darauf zu erhaschen und dann weiterhasten zu können. Im Idealfall wird alles per Digitalkamera dokumentiert, um auch später den Beweis vorlegen zu können: „Ich war da“. Das Pilgern nach Florenz und Rom ist für mich kein anderes als der Pilgerboom, der sich des Jakobswegs bemächtigt hat oder die mit jeder Meisterschaft ansteigende Fußball-Euphorie – man will dabei gewesen sein, man will auch ein Stück des Großen und Ganzen, das die Menschen verbindet und wovon sie noch in zehn Monaten oder zehn oder hundert Jahren sprechen, abbekommen. Ein solcher Wunsch nach kultureller Teilhabe ist verständlich, kann aber auch gefährlich werden, etwa im Hinblick auf das Kunstmekka Venedig, das nach Jahrhunderten im Kampf mit dem Meer nun unter den Touristenmassen zu versinken droht. Oder wenn Michelangelos David, eines der berühmtesten Kunstwerke auf der gesamten Welt und von Natur aus schon fragiler als er scheint, da von schlechter Marmorqualität, nun durch die von den Schritten tausender Besucher am Tag verursachten Vibrationen in seinem Quartier in der Galleria dell’Accademia zusammenzubrechen droht. Muss man am Ende die Kunst gar vor dem Publikum schützen?
Was kann man noch tun als den David von seinem ursprünglichen Aufstellungsort an der Piazza della Signoria zu entfernen und ihn in ein Museum zu verfrachten, wo er, vor Wind und Wetter geschützt, ewig jung und schön bleibt?
Was kann man noch tun als Ausstellungsräume optimal zu temperieren, wertvolle Gemälde hinter dickes Glas zu hängen und in Zehnminutenintervallen Besucherkleinstgruppen durch empfindliche freskengeschmückte Kapellen zu schleusen? Mit dem ursprünglichen Kunstgenuss hat das leider nicht mehr viel zu tun. Francis Bacon malte seine Bilder für Museen und Galerien, er wollte sie verglast sehen, am besten so dick wie möglich, um ihre Künstlichkeit noch zu unterstreichen. Aber Michelangelo schuf seinen David nicht für ein Museum, sondern für eine öffentliche Platzanlage. Ohne den Hintergrund des Palazzo Vecchio wird die Skulptur ihres Bedeutungszusammenhanges beschnitten, da der direkte Bezug zur Stadtgeschichte fehlt und zu den eigensinnigen Florentinern, die in den biblischen Helden David und Judith Verkörperungen für ihre kleine, aber stark und entschieden den Großmächten Papst- und Kaisertum (Ghibellinen und Guelfen) trotzende Republik sahen.
Wenn die Kunstwerke weiterhin einer solchen Behandlung zwischen Strapazen und Sinnentfremdung ausgesetzt sind, werden viele bald nur noch als Schatten oder Karikaturen ihrer selbst konserviert sein. Und was, wenn der David zusammenbricht oder die Mona Lisa eines Tages entgegen aller Sicherheitsmaßnahmen gestohlen und von einem Verrückten verbrannt wird? Können selbst prominente Städte wie Florenz oder Paris es sich leisten, ihre allerprominentesten Wahrzeichen zu verlieren? Wird man sie durch Kopien ersetzen, bloß um die Tourismusindustrie am Leben zu erhalten? Ich übertreibe hier ganz gehörig, doch lassen wir uns für einen Moment auf ein solches Gedankenexperiment ein: Was, wenn die Mona Lisa schon seit Jahren nicht mehr echt ist und, natürlich aus Schutzgründen, sicher in einem Kellerdepot des Louvre lagert?
Macht das einen Unterschied?
Hat es jemand gemerkt?
– Ein Aufschrei ginge durch die Medien, weil sich plötzlich alle betrogen fühlen – sie haben ja doch nicht das Original gesehen! Sie haben doch nicht die echte Reliquie geküsst, sind einem billigen Handwerker, so gut er auch gefälscht haben mag, auf den Leim gegangen! Aber der Punkt ist: Wird das Kunsterlebnis für sie daher weniger wert? Goodman führt auch diesen Gedanken weiter und stellt die Frage, ob zwei Werke, die völlig gleich aussehen, sodass niemand je einen Unterschied bemerken könne, nicht eigentlich dieselben seien. Ob es für die Definition als Kunstwerk einen Unterschied mache, welches das Original und welches die Kopie sei, schließlich denotieren sie beide genau dasselbe in eben derselben Art und Weise. Auf der Repräsentationsebene lässt sich der Zweifel natürlich schnell ausräumen: Der persönliche und gedankliche Hintergrund, den da Vinci hatte, ist ein anderer als das Interesse des Fälschers, und sein Werk ist auch ganz anders in der Geschichte verankert – insofern kann es nicht für das stehen, als das es Leonardo gemeint hat.
Die Problematik um den Begriff vom Original hat für uns heute entscheidend Walter Benjamin in seiner Schrift über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repoduzierbarkeit“ dargelegt. Durch Massenvervielfältigung verliert das Kunstwerk seine Aura. Was wir somit als Kunst im weiteren Sinne wahrnehmen – Film, Fotos, Kunstdrucke – sind eigentlich nur Abklatsche des Originals. Dieses selbst wird seines Rituals beraubt und der Mensch dadurch des echten Glücks bei der und durch die Kunstbetrachtung. Die Bilderflut, der wir durch Internet, Digitalkameras, Fotoshop-Bearbeitungsprogramme und ständig wechselnde Kinoblockbuster ausgesetzt sind, hätte sich Benjamin wohl nicht träumen lassen. Es wird immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich, Original und Kopie zu unterscheiden – ist das im Zeitalter der digitalen Medialisierung überhaupt noch möglich? Nicht nur die Spuren hin zum Ursprungswerk, zu einem Rest an Aura verwischen – auch die Möglichkeit, Wahrheit und Täuschung voneinander zu unterscheiden. Ein befreundeter junger Künstler formulierte das Problem so: Da uns nicht nur die direkt von der realen Außenwelt auf uns eintreffenden Bilder, sondern in zunehmendem Maße auch die künstlichen Welten von Foto, Film, Werbung und Internet (wobei diese Welten untereinander verflochten sind und sich gegenseitig befruchten) beeinflussen und unser Wahrnehmen und Denken prägen, wird es für Künstler immer schwerer, zu den „wirklichen“ Dingen hervorzudringen. Lassen wir Medienkunst und postmoderne Kunstzitatekunst beiseite, ist es doch das, was der Künstler versucht: sich ein Bild von der Welt zu machen und den Dingen möglichst genau auf den Grund zu gehen. Wie aber kann er nun sehen oder gar erst sehen lernen, wenn der Blick manipuliert und verschleiert wird?
Jeder kann sich heute seine eigene (Schein-)Welt konstruieren, kann seine Fotos digital bearbeiten, sich im Internet sein eigenes Profil erstellen und so ein virtuelles Bild von sich entwerfen, das auf die Realität abfärbt – so ist es inzwischen zur Normalität geworden, Facebook und Google zur eigenen Meinungsbildung über andere heranzuziehen. Diesen Zweitwelten können wir nicht entgehen, sie beeinflussen die Wahrnehmung von Künstler und Betrachter. Das unschuldige Auge existiert nicht bzw. ist eine Illusion, um es mit den Worten des von mir sehr geschätzten Kunsthistorikers Ernst Gombrich zu sagen.
Kommen wir zurück zu unserer Ausgangsfrage, was denn nun Kunst sei, so scheint eine Definition heutzutage schwieriger denn je. Die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur verschwimmen unter dem gemeinsamen Schlagwort „Kult“ (menschheitsgeschichtlich ein sehr alter Begriff und eigentlich aus dem religiösen Bereich entlehnt), virtuelle und reale Welten kon- und divergieren gleichermaßen, Gattungsgrenzen werden durch Cyber Art und Konzeptkunst gesprengt.
Vor diesem Hintergrund entbrannte bereits in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Debatte um die Definierbarkeit des Begriffs „Kunst“. Basierend auf Wittgensteins Vergleich der Kunst mit dem Spiel, fragte man sich, welche Eigenschaften und Merkmale Artefakte besitzen müssen, um als Kunstwerke erkannt bzw. anerkannt zu werden. Oder ob es solche Kriterien überhaupt geben kann. Verschiedene Merkmale wurden zu Rate gezogen, etwa eine besondere Geformtheit, ein inhaltlicher Gehalt, der über das bloß Formale hinausgeht und auf andere Ebenen verweist, eine Absicht von Seiten des Künstlers oder überhaupt das Geschaffensein durch Menschenhand. All diese Kriterien lassen sich durch Gegenbeispiele entkräften, wie etwa performative Künste ohne Materialität, Werke der Minimal Art ohne Aussageabsicht oder „zweite Ebene“ oder Land Art bzw. Kunst, die von der Natur und nicht vom Menschen erschaffen wird. Hier wiederum die Frage: Wenn ein besonders schöner Stein im Museum steht und niemand weiß, dass ihn kein Künstler behauen, sondern die Natur hervorgebracht hat – ist das dann trotzdem Kunst?
Antwortversuche gehen hier in müßige Spekulationen und Glaubensfragen über. Letztendlich kann man sich, wie schon gesagt, dem Problem Kunst nur annähern – anhand des Feststellens von Ähnlichkeiten (Familienähnlichkeiten genannt) etwa. Wie beim Spielen kann man den Gegenstand nur in der unmittelbaren Beschäftigung mit ihm begreifen, nicht im trockenen Philosophieren darüber oder durch das Auf- und Feststellen abstrakter Regeln und Grenzen. Zudem lässt die rasante Entwicklung der Kunst und ihre ständige Neuerfindung kein Kriterium, nicht einmal einen Kriterienkatalog zu, mittels dessen man sie festlegen könnte. Und gerade das ist ja auch gut – denn ist nicht das Großartige und Besondere an der Kunst, dass sie sich ständig weiterentwickelt, Gegebenheiten über den Haufen wirft, sich nicht mit dem Status Quo abfinden und widerspruchslos das Jetzt akzeptieren will?
Ich teile die paradox klingende Ansicht von Morris Weitz und sehe gerade in diesem kontinuierlichen Sichentziehen, in ihrer Undefinierbarkeit das entscheidende Definitionsmerkmal der Kunst.
Was ist Kunst? – Kunst ist vielleicht das, wovon man nicht bestimmt sagen kann, dass es Kunst ist, aber auch nicht, dass es nicht Kunst sei.
***
Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers.