Realitätsfinsternis

Als sozial-realistischer Romanautor versucht Enno Stahl aus dem Kanon unserer kulturellen Denk- und Handlungsmuster, die sich vom Kapitalismus herleiten, erneut einen Skandal zu machen. Er gibt dem Zweifel und dem Fremden in der Welt eine Stimme, will nicht einfach das Bekannte und Erwünschte handwerklich kompetent verschachteln. In „Winkler, Werber“ inszeniert Stahl eine grandios groteske Figurenentblössungsshow, er beschreibt einen Kleinbürger mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, der in der Werbung arbeitet.

Mit einem Prolog startet der Text furios: „Also die Werbung ist die zweite Realität. Oder sogar die erste. Und wer hätte das besser kapiert als ich, daher bin ich eben, bin ich…“. Damit ist der Ton angeschlagen, der sich in einer monomanischen Reflexionsprosa unerbittlich bis zum Ende durchzieht. Stahl ist ein Erzähler von wildbachähnlicher Eloquenz. Bekenntnis und Befund scheinen anekdotisch, sind aber elementar. Diese Prosa lebt von einer erstaunlichen Schärfe der Wahrnehmung, gleichzeitig von einer ebenso erstaunlichen Ichbezogenheit. Stahl analysiert die Mittelstandsdeutschen in ihrer unüberbietbaren Mediokrität und präsentiert eine Kunstsprache mit teilweise abgehackten, repetitiven Stummelsätzen mit einer souveränen Nonchalance.

„Winkler, Werber“ ist ein Dokument für das ausgekühlte, abgeklärt illusionslose Lebensgefühl einer Generation. Cool begegnen sich Menschen darin, gefangen im interessiert-desinteressierten Ichbezug, herrscht oft Berührungslosigkeit. Der Klimawandel hat auch im Beziehungsbiotop Rheinland stattgefunden. Der Roman balanciert auf der ununterscheidbaren Grenze von wahrer und falscher Lebendigkeit, gutem und schlechtem Symptomen. Als Soziologe verschreibt Stahl, dass die postmoderne Gesellschaft vor allem durch Bindungslosigkeit und Desinteresse funktioniert. Pluralisierte und individualisierte Gesellschaften fühlen sich durch Unverbindlichkeit verbunden. Abstand ist ihr Kennzeichen. Die Struktur der liberalisierten Arbeit – Isolierung, Austauschbarkeit, wenig Verbindlichkeit und hohes Risiko – bildet sich sichtlich in diese Prosa ab.

Diese Literatur ist als eine Art Geigerzähler zu betrachten, die die psychischen Strahlungen in einer endsolidarisierten Gesellschaft registriert. Stahl schildert die entleerende Postmoderne, in der sich Anstößiges mit Visionärem vermengt, die Banalität mit der Schwermut. Sie ist bevölkert von Egomanen ohne Ego, von Erotomanen ohne Eros. Dabei beschreibt er die Lebenswelt am ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert mit einer klinischen Kühle und Sterilität als operiere er den Patienten am offenen Herzen. Stahl konstatiert, daß die Folgen der sogenannten Globalisierung auch in der rheinischen Bucht angekommen sind. Hier leben Menschen an denen alles abperlt: die Natur, Mitgefühl, Sympathie, Moral, die skrupellosen Umstände, unter denen ihr Reichtum entstanden ist. Diese Haltung kritisiert er. Als sozial-realistischer Romanautor will Stahl den Glauben an die Veränderbarkeit einer schlecht eingerichteten Welt befördern.

„Winkler, Werber“, Verbrecher Verlag, Berlin 2012

Hören Sie auch „Bergisch-Gladbacher-Straße“, einen von 55 Titeln aus „Trash Me!“ Hörbuch, gelesen von Enno Stahl, Preis: 10,-

Alle Tracks sind in HiFi-Stereo-Qualität erhältlich, die komplette CD ist zu bestellen über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

Wir setzen diese Kooperation mit KRASH NEUE EDITION in den nächsten Monaten fort.