This cannot be happening · Erinnerungen an Kupfercreme
Es krankt ein Großteil der Schreiberei heutzutage daran, daß ohne reale Grundlage losgearbeitet wird, daß die Autoren in ihrem Zimmer vor dem leeren Blatt sitzen und aus dem eigenen Kopf heraus arbeiten wollen. Man kann nicht nur aus dem Kopf heraus arbeiten. Man braucht wie ein Schreiner Bretter, um daraus einen Kasten zu machen, betont W. G. Sebald während eines 2000 mit Volker Hage geführten Gesprächs. Ich kann der Aussage nur zustimmen: Immer wieder erlebe ich ein Buch als anämische Kopfgeburt, aber, welch feines und eben nicht ganz alltägliches Wunder, mir fällt, wenige Tage, nachdem ich diese Stelle in Sebalds Buch Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971 bis 2001 gelesen habe, das »Kasten«-Buch, zu dem der Autor die Bretter unter Einsatz aller Kräfte besorgt, zurechtgeschnitten und gehobelt hat, unmittelbar vor die Füße. Was wohl würde der römische Bürovorsteher, den Asterix beim Kampf um den Passierschein A 38 mit eigenen Waffen schlägt, nun verkünden? Ganz einfach – Hier ist es doch:
Copper Cream
Assured, as a flood of images sweeps your senses, baring smells and tastes and sounds, sweeping the three slim streams from your consciousness – – – Johannes Franks Remembrances of Copper Cream ist eine aufregende Lektüre, mein Kopf birst (zum Glück beinahe bloß) vor Wörtern, Wörtern, Wörtern, words, words, words, ein Tanz der Sprachen und Bilder, dokumentarisch, elegisch, illusionslos (brittle letters … mother / embassy / son / dead … friends drinking in the hall / me not wanting to taint / their liquid conversations / with news of such irrelevance), ironisch, nüchtern/ernüchtert, resonating unsavoury thoughts / between a wasted land’s infusions, in tiefer Nacht blitzt mich permanent dieser grelle helle Flash an – viel mehr noch das düstre Moment, machines of waste … chipped unsculpted stones … Remembrances of Copper Cream · Erinnerungen an Kupfercreme · זכרונות של נחושת וקצפת ist ein Lyrik, Prosa und Bild amalgamierendes, zwischen Englisch, Deutsch und Hebräisch changierendes Buch von mehr als einer Erinnerung an Kupfercreme, die die 148 Seiten leitmotivisch / dingsymbolisch durchwirkt, in dem – trotz der heiklen und zu engagierter Auseinandersetzung geradezu herausfordernder Thematik Israel und, gleichsam, eingedenk Adrienne Richs Parole Poetry is not a healing lotion but an emotional massage, a kind of linguistic aromatherapy – Sprache und Bild in kreativer Korrespondenz die Akzente setzen.
Spit · Splutter · Spout
Botschaften vermitteln sich, nonstop, über die durchgängig und ausdrucksvoll mit Alliteration (bubbles of blood / clumsily clotted copper cream), Antithese (lovers and lovers / loveless), Assonanz (burbles and gurgles), Katalog / κατάλογος (amethyst, carmine, asparagus, amaranth, orchid, powder, pine, lust, fire brick, fern, wisteria …), kataraktischem Monolog (… und wüstes land … und gräber sehen … und dann schweigen und auf die bäume schauen … und nicht erinnern wollen), Oxymoron (force fed love), Paragramm (chitter and chatter / restless recess), Repetitio (purple purple … purple purple / und gräber und gräber und: gräber) usw. klanglich enorm/exstatisch aufgeladenen, wirklichkeitsgesättigten Wörter, Verse und Zeilen (they spit and they splutter and spout), Graphiken, Striche und Zeichen naturgemäß von selbst. Now their songs flow like foam into each other – their songs a parallel diffusion – scheint, mittendrin, gleichsam als Motto für dieses großartig geglückte Buch auf.
Magnetic
material comfort // and against all odds / i did find god / in a room built by catholics / in this atheists’ paradise // cowering beneath the pews / he was assembling phlogiston flowers / reattaching them to a culled / consolation chain // well, the slab didn’t work / but does it for anyone? // nor the splinters from twenty / or so crosses // nor the pebbles which together / are the all-powerful paradoxical stone // but there in that room / firmly seated // a child’s delight / confined silence // a stuttered prayer / to bed my exothermic needs:
appropriate alphabetical // transgressions / cut my throat / in a clockwise clay reversion // a birthbed conversion / while the shem still burnt / under my tongue / put there by my father’s own yossel / who spat the curse, goy, / all over my face // so knead me with spring waters / and render me lifeless / and a fault in the firing
Das Gedicht material comfort begeistert mich derart, daß ich es wieder und wieder lese, Christel Fallenstein in einer Mail davon vorschwärme – und dem Autor (aus dessen Berliner Verlagshaus J. Frank ich in diesen Tagen den mich ebenfalls von Gedicht zu Gedicht drängenden, furiosen, quirligen, rasanten, temperamentvollen Lyrikband Massenhaft Tiere von Mikael Vogel lese) vorschlage, es für die Friederike-Mayröcker-Edition in der 28. Ausgabe der im Ludwigsburger Pop Verlag erscheinenden Literaturzeitschrift Matrix zur Verfügung zu stellen, die ich in den ersten Monaten des Jahres 2012 ediere. – Allein schon die Auftakt-Verse von material comfort:: and against all odds / i did find god. Die ›phantastische‹ alliterative Kombination phlogiston flowers wirkt im Zusammenhang der Verse elektrisch aufgeladen, gleichsam magnetisch zieht sie mich an wie die ehemalige 100-Watt-Glühfadenlampe das Insekt, und ich lese, »bis die Wimpern vor Müdigkeit leise klingen« (Elias Canetti). Flowers / pebbles … are the all-powerful paradoxical stone / exothermic needs / child’s delight / silence / fault in the firing – material comfort ist, in Worteinheit mit dem anschließenden Gebet appropriate alphabetical, ein Gedicht, das ich mit Wonne lese. – This graphic book of three times threefold remembrance is a book against seas of oblivion. I whisper: Thank you.
Frank, Scheinberger & Co.
J O H A N N E S C S F R A N K · Remembrances of Copper Cream · Erinnerungen an Kupfercreme · זכרונות של נחושת וקצפת , Lyrik und Prosa, englisch · deutsch ·hebräisch, SIGNS ins Deutsche übertragen von Florian Voß, GAMES ins Deutsche übertragen von Ron Winkler, SIGNS ins Hebräische übertragen von Judi Hetzroni und Merav Salomon, bebildert von Felix Scheinberger, 148 Seiten, Hardcover, FIXPOETRY Verlag, Hamburg 2012
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Der zweite Teil der für Kulturnotizen in Bild und Wort leicht erweiterten Essay-Trilogie Poesie und Preise · Und eine Reise zum FIXPOETRY.Verlag nach Hamburg ist HIER nachzulesen, der dritte Teil DORT.
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.