Poesie und Preise • Der Trilogie 2. Teil

Alles · Offen

… die Preise machen weiter …
Rolf Dieter Brinkmann

Während ich Brigitte Struzyks originelles, vor vitalen Versen strotzendes Lyrikbuch alles offen las, kamen mir erste, via Mail, Skype oder Telefon geäußerte, Mutmaßungen, wer denn den anste­henden Peter-Huchel-Preis gewinnen könnte, zu Ohren. Ich dachte im Anschluß an die über weite Strecken fesselnde Lektüre, daß Brigitte Struzyk diesen Preis mit alles offen durchaus gewin­nen könnte, es wäre eine gute Entscheidung, hoffte im stillen jedoch auf Ulrich Zieger und Auf­wartungen im Gehäus und ahnte, daß Joachim Zünders wahrhaft gute Rauchgeister sich im Hinblick auf den Preis in Luft auflösen würden. Ich kann die Entscheidung für Nora Bossongs schönes Gedichtbuch Sommer vor dem Mauern nachvollziehen, das ich sehr gern gelesen habe, wie ebenfalls im Essay Von Buch zu Buch nachzulesen ist, und während ich das hier aufnotiere, bin ich ganz bei Susan Sontag, die im 1964 publizierten Essay Notes on Camp betont: Camp taste is, above all, a mode of enjoyment, of appreciation – not judgment. Camp is generous. It wants to enjoy. It only seems like malice, cynicism. (Or, if it is cynicism, it’s not a ruthless but a sweet cynicism.)

Einmal Apfel · Einmal Birne

Es sind zwei sehr verschiedene Schuhe, ein Buch ›ansprechend‹, ›beeindruckend‹, ›geglückt‹, ›ge­lungen‹, ›gut‹ ›schön‹, ›rund‹ usw. zu finden und es mit einem so renommierten Preis zu ehren. Während der Peter-Huchel-Preis für Friederike Mayröcker um viele Jahre zu spät kam – und, Iro­nie des Schicksals, für dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, dem nach 2000 alles überragenden Gedichtbuch und darüber hinaus eins der am nachhaltigsten wirkenden Gedichtbücher (Einzel­titel wohlgemerkt), die ich je gelesen habe, Priessnitz’ 44 Gedichte, Brinkmanns Westwärts 1 & 2 fallen mir unwillkürlich ein, empfinde ich ihn, und ich bitte, das nicht als despektierlich aufzu­fassen, aus mehreren Gründen fast schon als zu gering –, kommt der Preis in diesen Zei­ten nach 2000, nun mehrfach bereits, (viel) zu früh.

Kraus!

2006 war es die 1979 geborene Uljana Wolf, deren feiner und mit etlichen starken Gedichten auftrumpfender Debütband kochanie ich habe brot gekauft den Peter-Huchel-Preis gewann. Im sel­ben Jahr veröf­fentlichte Karin Kiwus (Jahrgang 1942) mit Nach dem Leben ein Buch mit Gedich­ten, die mich vom ersten bis zum letzten Vers mitreißen und bis heute eindringlich nachhallen, es ist ein Gedichtbuch, in dem ich immer wieder lesen muß. Und jetzt mischt sich Kraus, rück­sichts- und rückhaltlos, auch mal wieder ein und fragt barsch, vorwurfsvoll und lauernd (als wenn ich etwas dafür könnte), ob es etwa eine Rolle spiele, daß die ›angesagten‹ Abräumer so mitten im prallen Betriebsleben stünden (war nicht 2006 der Jugendwahn in der Lyrik voll im Schwange?), und schon summt er, fast hechelnd, eine Melodie, zu denen sich geradewegs Wörter gesellen: Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht / und man siehet die im Lichte / die im Dun­keln sieht man nicht.

Bäume und Bücher

© Dirk Paeschke · www.kostenlos-fotos.de

Naturgemäß steigern sich die Werke im Verlaufe eines Literatenlebens mehr oder weniger be­trächtlich, um sich ab einem gewissen Zeitpunkt möglichst viele Jahre lang (hoffentlich) auf dem erreichten Niveau zu halten – vergleichbar den Bäumen, die auch nicht in den Himmel wachsen und deren Stämme, ›irgendwann‹, hohl werden. (Die große Ausnahme der in ihren Werken im­mer jünger wirkenden Friederike Mayröcker – sie wird immer noch nachhaltiger sie selbst – bes­tätigt die Regel.) Wir dürfen also davon ausgehen, daß Uljana Wolf, Marion Poschmann und Nora Bos­song ihre besten Bücher, für die der Peter-Huchel-Preis nicht mehr in Frage kommen kann, erst schreiben werden. Für Autoren und Leser wäre es eine eher traurige Vorstellung, nicht von dieser positiven Prognose auszugehen.

Bensch!

All das ist ja keine Frage des Gönnens oder Nicht-Gönnens. Mer moß och jönne könne, heißt es im Rheinland und der Eifel, und das beherzige ich genauso gern wie der aus Heslach stammende Wahl-Berliner: Ich freue mich sehr, wenn mich ein Preis ereilt. Ich freue mich für jede/n andere/n, wenn er/sie ihn bekommt. Davon abgesehen, daß ich vielleicht einmal, just for fun und durchaus gern, einen (nicht: irgendeinen) literarischen Preis in Empfang nehmen würde (geschenkt), bin ich jemand, der es vorzieht, abseits dieses von unterschwelligen ›Gesetzmäßigkeiten‹, von so schwer zu be­stimmenden ›Kräften‹ gelenkten seltsamen wie fürchterlichen ›Betriebs‹ zu leben (So wunderbare kleine Bücher wie Amras von Thomas Bernhard oder Murphy von Samuel Beckett, sagt Gerhard Falkner 2008 in der Kranichsteiner Rede, würden heute als Nicht-Spitzentitel zwischen den PR-Maschinen für die Marlitts und die Xypsilons unserer Tage und den Massen im Rodeo der Megabestseller totgetrampelten Lesern vom Markt gepustet), ein Betrieb, dem wir alle, nolens volens und mehr oder weniger, angehören und von dem auch die sich immer mal gern distanzieren, die ihn entscheidend mitbestimmen. Während ich dies schreibe, sehe und höre ich das unendliche Gewusel und Gesumm der Leipzi­ger Buchmesse mit mehreren tausend Verlagen und Autoren, zigtausend Büchern, fast 200.000 Besuchern. Aber einer muß die Bücher ja auch lesen, wirft Bensch ein, dessen offenbar angebo­rene knöcherne Leichenbittermiene mich immer wieder vergessen läßt, wie schlitzohrig er sein kann, und damit hätte auch er einen, im übrigen unverlangten, Beitrag geleistet, »was [nicht] schlimm ist«, denn ich denke ich just in dem Moment, naturgemäß, an den Satz, mit dem Beckett den Roman Murphy einleitet: The sun shone, having no alternative, on the nothing new.

Dickicht

Bei allem Jönne-Könne gibt es zu denken, und die Gedanken sind bekanntlich frei, daß die Mehr­zahl der bekannteren literarischen Preise in diesen Zeiten mehrheitlich von der auf breiter Front ambitionierten, vielfach talentierten jüngeren Generation, die naturgemäß erst ein schmales (gu­tes, interessantes, lebendiges, aber keineswegs ›herausragendes‹) Werk vorzuweisen hat, in Emp­fang genommen wird. Daß Klaus Merz, Jahrgang 1945, dessen bilderfacttenumfangreiche Werk­ausgabe seit 2011 bei Haymon erscheint, 2012 den Bad Homburger Hölderlin-Preis für seit 1963 verfaßte irolakonische Lyrik erhält, ist eine der gelegentlich aus den Tiefen des Nichtraums auf­tauchenden (hoch-)erfreulichen Ausnahmen. Aber auch unter den ›Jüngeren‹ sind es so wenige bloß, daß man sie fast an einer Hand abzählen kann. Marion Poschmann, Ulrike Almut Sandig, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht, Jan Wagner benenne ich exemplarisch (mich auf den Bereich der Lyrik beschränkend, in der Prosa geht es kaum anders zu – wer einmal auf dem toten Löwen oder weißen Elefanten sitzt, der kriegt, scheint’s, vom Betreiber eine Freikarte nach der anderen in die Hand gedrückt): Es ist bekannt, daß ich die bislang veröffentlichte Wörter und Werke der Be­nannten nicht nur fast ausnahmslos schätze, sondern in Monographien und Essays in zum Teil ausführli­cher Form sehr gelobt habe. Zuletzt war dies der Fall bei Sandigs Gedichtbuch Dickicht, dessen Lektüre mich auf eine Weise angeturnt hat, daß ich ein ganz gutes Gedicht nach der Lektüre machte.

Dichte/r

Ich sehe – insbesondere nach 2000 (während der 1990er Jahre, beispielsweise, war das anders: Eine Handvoll vielleicht behauptete in jenen Jahren mit einigem Abstand zum Gros die Spitzen­stellungen) – eine enorme Qualitätsdichte, was die literarischen Erzeugnisse im deutschen Sprachraum angeht – quer durchs Alphabet von A bis Z, quer durch die Jahrgänge von 1919 bis 1991, quer durch die dunkelsten Dörfer und grellsten Großstädte. Die wenigen Autoren, die die Mehrzahl der Preise erhalten, schreiben nicht in einer eigenen kleinen Eliteklasse, wie die Vielzahl der an sie innerhalb weniger Jahre verliehenen Preise suggerieren mag, sondern in einer großen gemeinsamen Liga mit vielen weiteren originell schreibenden Autoren, auf deren Bücher ich ge­nausowenig verzichten will wie die von den Benannten. Dieser Wald wird, mehr oder weniger flächendeckend, von den zuständigen Institutionen vor lauter Bäumen entweder nicht gesehen oder angstvoll umgangen, jedenfalls wird dessen florierende Fauna und Flora zum Nachteil der effektiven Förderung guter Literatur im deutschen Sprachraum keineswegs in gebührender Art und Weise gewürdigt.

Guter Zufall

Nun erinnere ich, wie eine von Kraus an einem sehr kalten Winterabend gestellte Frage einen Wortschwall auslöste, in dem ich u.a. sagte: »Bei manchem Feuilletonisten, Literaturkri­tiker und Juro­r (Leute, die die öf­fentli­che Meinung doch maß­geblich beeinflus­sen, denke ich nicht bloß beim Anblick von Büchertischen in Buchhandlungen) werde ich gelegentlich das Gefühl nicht los, daß ein wenig mehr verinnerlichtes literari­sches Breiten­spekt­rum durchaus zu anderen Be­wertun­gen, Einschätzungen, Urteilen füh­ren könnte; manche Worte in Rezensionen und Be­gründungen er­scheinen mir austauschbar, behauptet, floskelhaft, und ich wünsche mir in diesem Augenblick wieder einmal eine der guten Sache Literatur angemesse­ner ins Gleichgewicht brin­gende Verteilung der Glücks­momente, die be­kanntermaßen bei Auto­rinnen und Autoren durch Einla­dung zur Beteili­gung an Anthologien, Literaturzeitschriften, Lesungen, Festi­vals, Veröffentli­chung von Einzel­ti­teln, Prä­senz im Feuil­leton sowie Verleihung von Lorbeer und Sie­gerpalme ausgelöst werden, denn immer ist es letztlich dieses, zu allen Zeiten, etliche Jahre lang am Stück ›angesagte‹ Dutzend, das im Fokus des betrieblichen Interesses steht, alle anderen 500 bis 1000 Autoren, an die ich allein in diesen Stunden der Niederschrift dieses Essays bloß denke, dürfen sich schon dann mehr als glücklich schätzen, wenn sie zumindest den einen oder ande­ren Krümel aufheben dürfen (der für sie alles andere als ein Krümel ist: Was dem einen der gut dotierte Preis, ist dem anderen die Veröffentlichung eines einzigen Gedichts im Jahrbuch der Lyrik), der ihnen einmal zufällig vor die Fuße fällt.«

Na, na …

Die Vergabe des Cuxhavener Joachim-Ringelnatz-Preises für Lyrik 2012 an Nora Gomringer, auf die ich abschließend kurz eingehen möchte, ist ein ganz anders gelagerter Fall. Während des Tele­fonats am 17. März 2012 bezeichnet Matthias Hagdorn, nun schon zum wiederholten Male, Nora Gomringer als die Allert-Wybranietz der Postmoderne, sie schreibe Befindlichkeitslyrik, die sich um den eigenen Bauchnabel kräusle, wogegen ich erneut heftig (und wiederum aussichtslos) protestiere. Hagedorn ist bisweilen schmerzlich speziell. Da gehen die Meinungen auch schon mal rigoros auseinander. Nora Gomringer gehört in diesen Zeiten ebenfalls zu jenen, die in schöner Regelmäßigkeit Preisgelder aufs Girokonto überwiesen bekommen (und in erster Linie geht es darum bloß, Ehre hin, Ehre her, das weiß bereits Margarete: Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles. Ach wir Armen!, und Ulf Stolterfoht bestätigt es am 19. Oktober in einem feinen Beitrag in der Lyrikzeitung: Wenn ich weiterhin ein Leben als Gedichteschreiber führen möchte, werde ich auf Preise und Stipendien auch in Zukunft angewiesen sein. Ich bin diesbezüglich allzeit annahmebereit.

Erheiternd

Klar, daß die Cuxhavener Nachrichten, pro domo formulierend, eine »Sensation« vermelden. Axel Kutsch äußert sich bei der Gelegenheit in einem Kommentar in der Lyrikzeitung vom 24. Januar 2012 so: Wieder ein Preis für Gomringer. Nein, nicht für Eugen (der ist laut Wikipedia bisher dreimal geehrt worden), sondern für Tochter Nora. Es ist die 15. literarische Auszeichnung für die 31jährige. Nur ein Vergleich: Die fast gleichaltrige und keineswegs weniger talentierte Ann Cotten ist bisher dreimal ausgezeichnet worden. Weitere Vergleiche erspare ich mir. Nora Gomringer kann nichts für die offensichtliche Einäugigkeit mancher Jurymitglieder. Es ist ein Skandal, daß solche Zeitgenossen über die Vergabe von nicht unwichtigen Prei­sen zu entscheiden haben. Dieser Sichtweise schließe ich mich, sine ira, uneingeschränkt an – zumal im Fall Cuxhaven die Vergabe des Förderpreises (den die 1980 geborene Nora Gomringer im Auftrag der Jury vergibt) an José F. A. Oliver (Jahrgang 1961), der entsprechend der im Internet nachlesbaren Richtlinien den Ringelnatz-Hauptpreis für ein seit Jahrzehnten gereiftes außerge­wöhnliches, ori­ginelles, die Lyrik im deutschen Sprachraum förderndes Werk, das ich seit vielen Jahren mit be­trächtlichem Gewinn lese, verdient hätte, das Ganze endgültig zur Farce macht, womit sich wie­der einmal ein Kreis im Denken schließt: Mit Thomas Bernhards köstlichem, 2009 bei Suhrkamp erschienenem Satireband Meine Preise habe ich vor ein paar Jahren ein Buch gele­sen, in dem ein bestens aufgelegter, herrlich clownesk formulierender Erzähler die fatal ver­rückte Literaturpreis-Farce – ob es dabei um Grillparzer-, Staats- oder Bremer Preis (usw.) geht, spielt keine Rolle – auf höchst erheiternde Weise entlarvt:

Ich war dafür, Canetti den Preis zu geben für seine Blendung, das geniale Jugendwerk, das ein Jahr vor dieser Jurysitzung wieder neu gedruckt worden war. Mehrere Male sagte ich das Wort Canetti und jedes Mal hatten sich die Gesichter an dem langen Tisch wehleidig verzogen. Viele an dem Tisch wußten gar nicht, wer Ca­netti war, aber unter den wenigen, die von Canetti wußten, war einer, der plötzlich, nachdem ich wieder Ca­netti gesagt hatte, sagte: aber der ist auch Jude. Dann hatte es nur noch ein Gemurmel gegeben und Canetti war unter den Tisch gefallen. […] Zu meiner größten Verblüffung zog plötzlich einer der Herren, ich weiß nicht, welcher, aus dem Bücherhaufen auf dem Tisch, wie mir schien wahllos, ein Buch von Hildesheimer heraus und sagte in umwerfend naivem Ton und geradezu schon im Aufstehen zum Mittagessen: Nehmen wir doch Hildesheimer und Hildesheimer war gerade jener Name, der während der stundenlangen Debatten über­haupt nicht gefallen war. Nun war plötzlich der Name Hildesheimer gefallen und alle rückten auf ihren Ses­seln und waren erleichtert und stimmten in den Namen Hildesheimer ein und binnen ein paar Minuten war Hildesheimer zum neuen Bremer Preisträger bestimmt. Wer wirklich Hildesheimer war, wußten sie wahr­scheinlich alle nicht. […] Die Herren erhoben sich und gingen in den Speisesaal. Der Jude Hildesheimer hatte den Preis bekommen.

Halali

Ich mache, denke ich, während ich Alban Bergs Violinkonzert von 1935 lausche, auf Nora Gom­ringers Lyrik genauso Jagd wie auf die Lyrik aller Verse verfassender Autoren, derer ich habhaft werden kann und die ich im täglichen Lesen im Laufe der Zeit ken­nengelernt habe. Ich habe sie live erlebt und kann den Hype, der durch den Blätterwald geistert, nicht ganz nachvollziehen (well, maybe sometimes at night): Ich erlebte Nora Gomringer in ers­ter Linie als auf Distanz be­dachte routiniert Posierende, die, beispielsweise, hallo?, einen pa­ragrammatischen Spruch (aus Nachrichten aus der Luft, in denen – natürlich! – auch Originelleres zu lesen ist) zum besten gab (den ich im Alter von 6 oder 7 Jahren bereits, ohne den Titel, das Wort gab’s auf dem Bauernhof nicht, dafür war ›die Gülle‹, fast, allgegenwärtig, für mich entdeckt hatte) und die Gäste beim Auftaktabend des Poesiefestivals Konstanz im November 2010 nach dem letzten Wort sekun­denlang auf eine Art fixierte, als hätte sie wunders was vollbracht: Bau­ernidylle // Vater / Mutter / Rind.

Bratkartoffeln

Ich spüre noch heute, wie stolz ich war, truth is: I was beaming, als ich diesen Spruch, den ich mir, 1962 oer 1963, als Kind im zwischen Traktorgarage und Hühnerhaus plazierten Sandkasten aus­gedacht hatte und, nachdem Vater und Mutter die Kühe gemolken und gefüttert hatten, beim gemeinsamen Abendbrot mit Schwarzbrot vom Bürvenicher Bäcker Lückenbach und Bratkartof­feln zum besten gab und dafür anerkennendes Lachen erntete. Während der Goldhochzeitsfeier einer Kusine im Frühjahr 2011 kam diese irgendwann auf mich zu, wir hatten einander viele Jahre nicht gesehen, und sie fragte mich: »Theo, weeß de noch, wat de de dumols als Köngk emme usjedaht häß?« Sie hatte gleich ein paar Wörter parat und lachte so schallend wie ›damals‹. Das hat mich doch sehr gerührt an jenem schönen Festtag, als ich mit Menschen, die Jahrzehnte noch älter waren als ich, ins lang anhaltende Gespräch kam über die gute alte Zeit und wir von vröde er­zählten. Herrje.

Von Aigner bis Zander

Ich kann aus Platzgründen nun nicht mehrere hundert Namen von Autoren wie C. W. Aigner · Hans Bender · Ann Cotten · Hugo Dittberner · Peter Ettl · Ingrid Fichtner · Harald Gröhler · Nor­bert Hummelt · Semier Insayif · Hendrik Jackson · Ilse Kilic · Michael Lentz · Herta Müller · Jörg Neugebauer · Brigitte Oleschinski · Kevin Perryman · Lothar Quinkenstein · Lars Reyer · Walle Sayer · Jürgen Theobaldy · Anja Utler · Günter Vallaster · A. J. Weigoni · Berto Xenien-Heuer · Bar­bara Yurtdas · Maximilian Zander, die ich hier mal querbeet aufrufe, ins Spiel brin­gen, deren aus­gereifter und origineller gestaltete Gedichte wesentlich nachhaltiger wirken als die Lyrik von Nora Gomringer, die kritischen Einlassungen, ihre Verse seien doch auch oft recht trivial (bzw. »glatt und selbstgenügsam«, wie Guido Ernst in Das Innerste von außen. Zur deutschspra­chigen Lyrik des 21. Jahrhunderts konstatiert), mit dem lockeren Spruch »Nora Gomringer macht ein Gedicht. Aus!« begegnet. Autsch.

Poetische Sprachspiele

In aktuellen, exemplarisch das ganze Spektrum deutschsprachiger Lyrik mehr oder weniger um­fänglich in den Blick nehmenden Sammelbänden von An Deutschland gedacht über Der deutsche Ly­rikkalender · Der gelbe Akrobat · Der Große Conrady · Ein Alphabet der visuellen Poesie · Jahrbuch der Lyrik · In diesem Land · Laute Verse · Lied aus reinem Nichts · Poesie Agenda · Poetische Sprachspiele · Versnetze · Zeit. Wort usw. sind die, an die ich denke, mehr oder weniger oft zu finden, werden, auf dem Silber­tablett gleichsam, dem interessierten Leser fortlaufend als mehr oder we­niger üppig belegte Appetithäppchen dargeboten: Andreas Altmann · Jürgen Becker · Zehra Çi­rak · Uwe Dick · Oswald Egger · Ludwig Fels · Hartmut Geerken · Kerstin Hensel · Jayn-Ann Igel · Steffen Jacobs · Ursula Krechel · Christian Lehnert · Franz Mon · Jürgen Nendza · Albert Ostermaier · Richard Pietraß · Gerhard Rühm · Kathrin Schmidt · Hans-Ul­rich Treichel · Ra­phael Urweider · Guntram Vesper · Ernest Wichner · Annemarie Zornack. Wer da kein Verlan­gen nach mehr empfindet, macht mich ratlos. – Jedenfalls warten die Buchprogramme von fixpoetry und den so zahlreichen anderen Verlagen alljährlich mit vielen, vielen hundert Neu­titeln auf, von denen das Gutteil auch auf nüchternen Magen mehr oder weniger bekömmlich sein dürfte. – – – Während ich diese Liste vollende, stehe ich unter dem mächti­gen nächtlichen Lese­eindruck, den Mikael Vogels Gedichtband Massenhaft Tiere hinterläßt, der 2011 im Berliner Verlagshaus J. Frank erschienen ist: Der poetische Android // Scardanellis wilde Schlafmütze schlurfend von / Turmfenster zu Turmfenster / mache sich in den Staub, gebeugt, die / Löwensprache unter dem Arm. Ich suche nach ›einem‹ Wort, mit dem ich diesem Buch ge­recht werden kann, finde keins und lasse es, zunächst, ganz einfach gutsein, bis sich beim Wiederlesen nach einigen Tagen, gleichsam wie an der Schnur gezogen, Wörter wie ›agil‹ · ›bissig‹ · ›chromatisch‹ · ›drängend‹ · ›energisch‹ · ›forsch‹ · ›gepfeffert‹ · ›heftig‹ · ›idiosynkratisch‹ · ›jovial‹ · ›knisternd‹ · ›lustvoll‹ · ›markant‹ · ›neologistisch‹ · ›opulent‹ · ›peppig‹ · ›quirlig‹ · ›rasant‹ · ›satirisch‹ · ›temperamentvoll‹ · ›unerhört‹ · ›vergnüglich‹ · ›wirbelnd‹ · ›zupackend‹ einstellen. – – – Aber Juroren leben, Thomas Bern­hard zufolge, eh nach der De­vise, daß der Mensch nicht vom Buch allein lebe.

Und Mrs Columbo!

© Chris Brown 2007

Das dahingestellt sein lassend, sage abschließend zu Kraus und Bensch, übrigens just in dem Moment, als Mrs Columbo, warum auch immer und wie so oft laut lachend, vom langen Gang durch den Wald zurückkehrt und meint, jetzt brauche sie, pronto, pronto, einen Cappuccino: Man ist bei der Vergabe des Ringelnatz-Preises, der an Autoren vergeben werden soll, »die einen bedeutenden künstlerischen Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik liefern«, zu denen Nora Gomringer noch nicht unbedingt zählt, dafür aber (die einen, naturgemäß, ein wenig mehr als die anderen) Autoren wie Urs Allemann · Paulus Böhmer · Crauss. · Ulrike Draesner · Elke Erb · Gerhard Falkner · Zsuzsanna Gahse · Manfred Peter Hein · Felix Philipp Ingold · Gerhard Jaschke · Axel Kutsch · Philipp Luidl · Christoph Meckel · Helga M. Novak · Hellmuth Opitz · Bert Papenfuß · Thomas Rosenlöcher · Ludwig Steinherr · Hans Thill · Christian Uetz · Olaf Velte · Paul Wühr · Ul­rich Zieger, im Jahr des Buches 2012 vorläufig auf dem Jahrmarkt der Beliebigkeit angekommen.

 

 

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Der erste Teil der für Kulturnotizen im Wortlaut leicht erweiterten Essay-Trilogie Poesie und Preise · Und eine Reise zum FIXPOETRY.Verlag nach Hamburg ist HIER nachzulesen, der dritte Teil DORT.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.