Die Dimensionen von St. Petersburg
Ich war in St. Petersburg auf der Sprachenschule. Ich hatte eine nette Unterkunft bei einer Gastfamilie in einem dieser vorgelagerten Stadtteile, die nur aus Hochhäusern bestehen, vorgelagert wie das Meer, aber das Meer war noch weiter draußen bzw. fraß sich in die Stadt, in Form der Newa. Wer sich eine Vorstellung von den russischen Dimensionen machen will, dem sei gesagt, dass ich bei meiner Ankunft in dieser Stadt die Fontanka (einen kleinen Seitenarm der Newa) für die Newa hielt, und als ich dann die Newa sah, dachte ich, ich sei am Meer!
Was mich in diese Stadt trieb, war die Liebe zur russischen Literatur, aber ich war keine gute Schülerin, genauer gesagt hatte ich Schwierigkeiten mit dem Erlernen von Vokabeln; allerdings hatte ich ein Faible für das Funktionieren der Sprache, also deren Grammatik. Anstatt aber meine Hausaufgaben zu machen, trieb ich mich halbe Tage mit einem Notizbuch in der Stadt herum. Zum Glück musste sich niemand darüber ärgern − ich hatte mir die Kosten der Reise selbst zusammengespart.
Der verschlafene Russischunterricht
Von Tolstoi, Dostojewski und Nabokov hatte ich ALLES gelesen, nicht wenig von Lermontov, Bunin, Jerofejew (beiden), Marienhof und Sorokin, und nun hatte ich die Lyriker und Dramatiker noch gar nicht mitgerechnet … Im Unterricht träumte ich vor mich hin; so kam es dann zu Szenen wie dieser: Einer in unserer Klasse war ein wahrer Frauenheld, und Nina, die Lehrerin, fragte ihn, mit wie vielen Frauen er pro Woche ausgehen würde. Dann bot sie ihm einen Pakt an: Sie sei der Teufel, und er könne jedes Mädchen bekommen, wenn er einmal nur mit ihr ausgehen würde. Ich platzte heraus: Das erinnere mich an eine Erzählung von Bulgakov. Und wurde sofort bezischelt: Das hätte sie doch gerade gesagt, und jetzt übten sie den Dialog.
Die anderen aus der Klasse hielten mich eh für sonderbar, ich telefonierte nicht jeden Abend nach Hause, weil ich kein Heimweh hatte, ich hatte auch keine Sehnsucht nach einem Geliebten, weil ich die ganze Stadt liebte, mich interessierten keine Shopping-Touren, weil ich kein Geld hatte, und ich sah merkwürdig aus, weil ich, aus Unkenntnis der Wetterlage (Oktober am finnischen Meerbusen) nur einen dicken Pulli mitgenommen hatte, und den zog ich gar nicht mehr aus.
Ein berühmtes Gedicht von Puschkin
Eines Tages lud mich Nina zu ihrem Geburtstag ein. Ich wusste gleich ein Geschenk: Blumen (sie mussten weiß sein) und der Versuch eines eigenen russischen Gedichts. (Es war zwar vermutlich recht unbeholfen, aber man würde darüber ins Gespräch kommen.) An der Tür bekam ich gleich Pantoffeln angeboten, ausgelatschte, die mir viel zu klein waren. Es waren ihre Schwester mit Sohn, ihre Mutter, zwei Freundinnen da. Ebenso wie in meiner Gastfamilie fehlte auch hier der Mann, und auf die Frage, wo er denn sei, dieses herrliche Wort „kudanibud“ / „irgendwo(hin)“. „Die Liebe kommt, die Liebe geht; aber man will sie immer haben.“ Unser Thema war sofort die Liebe; und die Kunst. Nina erzählte davon, wie 8 Männer sie gemalt hätten, auf einer Insel; anschließend sei sie ins Wasser gesprungen. Ich zitierte Puschkin, den selbst ich auswendig lernen konnte, weil er so rhythmisch war:
Я Вас любил: любовь еще, быть может,
В душе моей угасла не совсем;
Nina und ihre Mutter beendeten im Wechsel:
Но пусть она Вас больше не тревожит;
Я не хочу печалить Вас ничем.
Я Вас любил безмолвно , безнадежно ,
То робостью , то ревностью томим ;
Я Вас любил так пламенно , так нежно,
Как дай вам бог любимой быть другим .
Merkwürdige Übersetzungen und eine Vase
Das Gedicht, das ich ihr mitgebracht hatte, handelt vom Regen. Und weil der Regen im Russischen geht und nicht wie im Deutschen fällt und ich darauf meine lyrischen Betrachtungen aufbaue, haderten wir schon im ersten Absatz mit dem Sinn einer Übersetzung. Allmählich sollte jetzt aber gegessen werden. „Kuschatje!“, forderte Nina uns auf. Es gab viel Fettiges und Süßes, (Törtchen!), ohne das der harte russische Alltag nicht zu ertragen wäre.
Als ich wieder auf der Straße war, musste ich an die merkwürdigen Übersetzungen denken, die es von Puschkins Gedicht gab, die versuchten, den Rhythmus und die Melodie nachzuahmen, ohne auf die Sprache zu achten, ich meine: die Grammatik. Meiner Meinung nach lebte das Gedicht in erster Linie von den grammatischen Bezügen, der Rest war Beiwerk und natürlich genial, weils trotzdem reimt (andereseits ein Muss in der romantischen Zeit, 1829 ist das Gedicht entstanden). Es gibt nur ein Nomen (außer dem Ich): die Liebe. Und die wird gleich in der ersten Zeile erwähnt. Und sie ist auch die einzige Aktive. Alles Folgende sind Differenzierungen dieses Gefühls in Bezug auf die Person, die geliebt wird, ein Besingen. Und die wird nicht mit „du“ sondern mit „Sie“ angesprochen. Und dieses russische „Sie“, im Akkusativ „Vas“, kommt im Gedicht viermal vor, und ich finde es herrlich. Es ist für mich eine kostbaren Vase, vielleicht so eine, wie sie im Schloss Peter des Großen ausgestellt ist, eine Vase, deren Material allein mehrere Jahre zur Herstellung braucht.
Im Russischen wird alles, bis auf Namen (und hier eben die Anrede), kleingeschrieben, auch das unterstützt diesen Charakter des Unfassbaren, schwer Festzuhaltenden. Ich überlegte: Was könnte man an der Übersetzung besser machen? Könnte man im Deutschen alles kleinschreiben? Aber dann würde sozusagen die Vase wegfallen …
Die Sprache als Bühne
Bald bin ich wieder bei meiner Gastfamilie, die Hochhäuser haben in diesem Stadtteil einen etwas anderen Pastellton. Baufahrzeuge kriechen wie Insekten vor ihnen dahin, wirbeln Staub auf, lassen sie schwebend erscheinen. Dazwischen viel Platz, Ödnis, Schlammlöcher, Steppe, in der ein paar Kinder Fußball spielen und niemand geht außer mir.
Diese Sprache ist also, ähnlich wie die Stadt, eine großartig angelegte Bühne. Aber sie wird alltäglich benutzt! Zu meiner Verwunderung hantieren sie leichtfüßig mit Wörtern, von denen jedes zweite so schwer und verziert ist, wie ein Kronleuchter.
Und deswegen leuchtet sie immer noch, wenn sie − wie im Gedicht − entkleidet ist, aufs Wesentliche reduziert, nicht aufgeladen mit Bildern / Namen. Sie wiederholt sich sogar ein wenig, suchend … mit Partikeln, tastet sich voran, wie eben das Gefühl, das sie beschreibt (was die Übersetzung mit einer gereimten Nachdichtung zerstört).
Natürlich fällt mir auch keine Lösung ein, die der literarischen Kritik standhält, ich bin keine Übersetzerin, nur eine Liebhaberin der Ursprungssprache.
Post Scriptum
Meine Übersetzung des Puschkin-Gedichts:
Ich liebte Sie, aber die Liebe ist vielleicht / in meiner Seele noch nicht ganz erloschen, / doch will ich Sie damit nicht weiter beunruhigen, / ich möchte Sie durch nichts betrüben. // Ich liebte Sie, still und hoffnungslos, / mal von Schüchterheit, mal von Eifersucht gequält, / ich liebte Sie so leidenschaftlich, so zärtlich / gebs Gott, dass ein anderer Sie so liebt.
Übersetzung von Eric Boerner:
Ich liebte dich; und liebe wohl noch immer,
Denn ganz erstarb’s in meiner Seele nicht;
Doch möge dies Gefühl dich nicht bekümmern;
Ich stellte es nicht gern in schlechtes Licht.
Ich liebte schweigend, ohne Zuversicht,
Von Schüchternheit, von Eifersucht gequält;
Ich liebte dich so innig und so zärtlich,
Gott mit dir, wird der andre so beseelt.