Die Tochter ∙ der Vater ∙ die Sehnsucht
Und ich spüre, wie sich meine Flaumhaare im Nacken aufstellen, schreibt Gila Lustiger über ihre Glücksempfindungen als Kleinkind. Gila Lustiger ist die 1963 geborene Tochter von Arno Lustiger. Ihr 2005 erschienener autobiografischer Roman So sind wir ist durchsetzt von Zorn und Schmerz darüber, dass es in ihrer großbürgerlichen, deutsch-jüdischen Familie schweigendes Übereinkommen war, über Gefühle nicht zu sprechen. Ihr Vater vor allem hat ihr es vorgelebt.
Der deutsch-jüdische Historiker Arno Lustiger hatte Auschwitz und andere Vernichtungslager als ganz junger Mensch überlebt. Aber noch Jahrzehnte danach hätte er es nicht ertragen, über Auschwitz reden zu müssen; so erfuhr die Tochter erst als Erwachsene vom Grauen seiner Vergangenheit. Sein eisernes Schweigen aber durchtönte ihre ganze Kindheit, das Leben der Familie, belastete es, schien es manchmal zu erdrücken. Es war eine Kindheit in der Bundesrepublik Deutschland der 60er Jahre. Und doch hat die Erzählerin, die auch im Roman Gila Lustiger heißt, inmitten des schweigenden Umgangs mit einer Familiengeschichte, die frösteln macht, einige überwältigende Glücksmomente erlebt.
Oase
Bevorzugte Oase dieser Momente sind die Annäherungen des Kleinkinds an den Vater, einen Vater, der so schweigsam wie anscheinend ahnungslos bleibt, der, vertieft in die Zeitung, in seinem Lesesessel sitzt, während das Kind sich listig an ihn heranrobbt:
Und dann […] berühre ich ganz sanft den Stoff seines Hosenbeins, streiche mit den Fingerspitzen darüber […] Mein Herz hämmert. Und da passiert es! Mit einer linkischen Bewegung klammere ich mich ungestüm an sein Bein. Und ich spüre, wie sich meine Flaumhaare im Nacken aufstellen und wie sich eine ungewohnte Empfindung im Körper ausbreitet, die mir auch später noch den Atem verschlagen wird. Keine Empfindung der Welt wir mir jemals schöner erscheinen als diese hier. Wonneschauer? Nein! Ein kleiner, goldener, sanfter Schmerz: herzzerreißende Sehnsucht.
Dass sie den Schmerz als klein und sanft und golden erlebt, erzeugt Atmosphäre. Gila Lustiger geht nahezu auf in der Atmosphäre, die den Raum zwischen ihr und ihrem Vater erfüllt. Und sie wird die Erinnerung daran bewahren.
Leiberleben
Sehnsucht und Schmerz, schon nahe bei der Lust, sind Leiberleben – so hat Hermann Schmitz, zeitgenössischer Philosoph, sie als einige der herausragenden Gefühle beschrieben. Leiberleben ist nicht Körpererleben. Als Leib ist dasjenige zu verstehen, als was ich mich selbst spüre, sagt Gernot Böhme. Der Leib ist das Lebendige, Nicht-Konservierbare schlechthin, nicht anzutreffen in den diversen Körperwelten. Und er ist den Lebenden nicht einfach gegeben, er muss erworben werden: Mitnichten ist Leibsein selbstverständlich in unserer technischen Zivilisation, in der die Perspektive des Körpers vorherrscht. Der Körper ist Gegenstand der Fremd-Erfahrung, des Blicks von außen. Der Leib aber ist überhaupt kein Gegenstand; ihn kann jedes Individuum nur erleben, als ständig wechselndes Befinden erleben, und er ist nur jedem selbst zugänglich. Vom vorgestellten Körper, aber vom gespürten Leib spricht Schmitz.
Das kleine Mädchen Gila hat seinen Leib gespürt, ohne die Philosophie zu kennen, ohne deren Worte zu gebrauchen, und sie vermutet, ihren Leib auch später noch zu spüren, nämlich dann, wenn ihr die Erinnerung an das Erlebte erneut den Atem verschlagen wird.
Eine detaillierte Entfaltung der Romansituation; zwar spielen einzelne Körperteile zunächst eine besondere Rolle. Aber dann schießen alle Ströme des Erlebens gewissermaßen ein in ein Befinden, das die Autorin mit den Begriffen Wonneschauer, Schmerz und Sehnsucht gleichsam umstellt (sofort bin ich an Adornos Denkfigur Konstellation erinnert).
Tastende Fingerspitzen, ein hämmerndes Herz, ein zerreißendes Herz gar, Flaumhaare im Nacken, die sich aufrichten, das Verschlagen des Atems lebenslang, wenn diese eine Empfindung wieder auftaucht. Doch als Einzelempfindung wird sie transzendiert vom Bild der herzzerreißenden Sehnsucht.
Der Vater ∙ das Lesen ∙ Glück der Geborgenheit
Doch es gibt auch Momente des Glücks in stiller Geborgenheit. Das Kind erlebt sie bei der schlaftrunkenen Wahrnehmung des nächtlich lesenden Vaters. Der Schein seiner Leselampe liegt auf dem Parkett des Flures, und der Flur liegt zwischen dem Wohnzimmer mit dem lesenden Vater und dem Kinderzimmer, dessen Tür geöffnet blieb. Nur am Widerschein seiner Leselampe auf dem Parkett des Flures, der zwischen dem Wohnzimmer und der geöffneten Kinderzimmertür liegt, erkennt das Kind, dass der Vater da ist. Nein, nicht doch – da ist auch sein tiefes, heiseres Räuspern, das Gila regelmäßig hört, während sie den Kopf vom Kissen heben möchte und es doch nicht vermag. Ich stützte mich unter der Decke mit der Hand ab, aber der Kopf blieb schwer, schreibt sie, und der Mund blieb breiig, und der Körper, vom Schlaf versteinert, wog einen Zentner. Das Kind lauscht und hört ein heiseres Hm, hm, hm, dann stopfte es sich den Daumen in den Mund und schlief glückselig ein.
Fühlen von Gefühlen
Gila Lustigers Roman lässt miterleben, was ihr als Kind nur in seltenen Momenten zuteil wurde. Er zeigt zum einen das Fühlen von (Glücks-)Gefühlen, zum anderen deren Darstellbarkeit. Dabei geht es auch um die Grenzen verbaler Äußerungen über Gefühle. Letztere zeigen sich schon rein formal darin, dass zur Beschreibung des Getroffenwerdens von Gefühlen nur ich-bezogene Ausdrücke zugelassen sind und dass es dafür nur höchstens eine sprechende Person geben kann, wie Hilge Landweer betont. Gila Lustiger gestaltet die Wahrnehmbarkeit des Leibes, die ihr Vater nicht mehr zulassen kann. Vor allem darf nicht darüber gesprochen werden. So gestaltet Gila Lustigers Roman vor allem das Ringen um Distanz.
Es durchzieht das gesamte Buch. Die Tochter Gila will nichts zu tun haben mit der Bezeichnung des Vaters als ›Auschwitz-Überlebender‹ oder auch als ›Überlebender‹; sie will nichts zu tun haben mit der Geschichte ihrer jüdischen Familie, deren großartigem Durchhalteprojekt, das typisch sei für Juden, besonders in Israel ( wo Gila Lustiger eine Zeitlang bei ihren Großeltern gelebt hat). Es ekelt sie an, dass sie damit nichts zu tun haben will, aber noch mehr ekelt es sie, wenn Arno Lustiger auf den Status des Überlebenden reduziert wird, und das geschieht in der deutschen Nachkriegsgesellschaft häufiger, als die Tochter ertragen kann.
Erfinden!
Aber es gibt für Gila Lustiger weitere Gründe, sich zu distanzieren. Der Vater vor allem hat ihr vorgelebt, über Gefühle nicht zu reden. Dies ist der Grund, aus dem die Autorin, wenn sie auf Leibliches zu sprechen kommt, aus ihrem Leibe gleichsam ›auszieht‹. Dies bewerkstelligt sie, in dem sie etwas hinzuerfindet. Sie muss erfinden. Darauf weist sie selbst ausdrücklich hin. Und sie erklärt es auch: Ein scheinbar realistischer Albtraum ihrer Kindheit wirft sie beinahe um, ein Albtraum, in dem eine ordinäre, nackte Frau eine aufdringliche Rolle spielt, eine Frau, die schließlich breitbeinig stehend uriniert, und danach sagt: So. Lustiger schreibt: Das (Urinieren) hatte mich kleines, hypnotisiertes Kaninchen geweckt, und ich erwachte in meinem warmen Urin. Hier folgt ein Absatz. — Ich atme durch, froh über diese Leerstellen, kann ich mich doch nun von der Düsternis des Traums ein wenig erholen. Weit gefehlt! Lustiger fügt sofort an:
Ich habe eben erfunden, gepinkelt habe ich damals nicht. Die Pisse ist hinzugedichtet (…). Ein Grund ist wohl, dass ich mir den Leser vorstelle und sein ganz und gar gleichgültiges Gesicht, während ich mich langsam Satz für Satz vor ihm entblöße. Ich kann das nicht ertragen, und deshalb erfinde ich gewissenhaft. (…). Die Lüge ist unser Trumpf im Ausziehspiel. Denn nackt träfe uns die Verachtung, die so mancher rechtschaffene Spanner uns entgegenbringt, wie ein direkter Faustschlag ins Gesicht, aber mit der Lüge bekleidet trifft uns nichts. (…). Die Autobiographie bleibt mit ihren stilisierten Lügen Literatur. Wisse darum, argloser Leser: (…) nackt bin ich nie oder nur dann, wenn auch du es bist. Aber mich schützt das Wort, während du deiner Neugierde, deiner Missbilligung, und deinem Mitleid wortlos ausgeliefert bist.
Als ob es dieser Versicherungen bedürfte! Auch Autobiografien sind literarische Texte, untrennbar verbunden sind dokumentarische und fiktionale Elemente, wie anders kann das sich erinnernde Ich das Erinnerte von damals wieder beleben?
Scham wegen der eigenen Opferrolle
Aus Furcht vor Entblößung wechselt Lustiger die Perspektiven, sie kriecht gleichsam hinter das Wort und realisiert dies alles durch mehrfachen Wechsel in der Form ihrer Erzählung: Sie wechselt von der Ich- über die Es-Erzählung zur Du-Form: Dem arglosen Leser droht sie direkt. Was Lustiger hier beschreibt, ist der Versuch, mit Hilfe von Literarisierung dem Gefühl der Scham zu entkommen.
Scham gehört zum Bereich des Leiblichen. Sie ist ein Gefühl, das der davon betroffenen Person keinen Ausweg lässt. Anders als beim Erleben von Schmerzen, Angst oder Zorn heftet sich Scham an die Fersen der Person; kein Aufspringen, kein Schreien, kein Sich-Verkriechen, kein Festklammern, kein Ortswechsel hilft: Die Scham, ist sie nur begründet genug, bleibt immer bei uns. Und mit ihr der Wunsch, sich in Luft aufzulösen.
Von allen Seiten
Nietzsche schon wies darauf hin, dass uns das Gefühl der Schande isoliert, gerade auch, weil es uns zum Mittelpunkt der Welt macht: (…) man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt, schreibt er in Morgenröte. Das Auge, der Blick des Anderen, spielen die entscheidende Rolle, das ist auch bei Gila Lustiger so. Und das war auch schon so für Sartre. Er beschreibt die Scham als leibliches Spüren; Lustiger würde sie wie einen Faustschlag mitten ins Gesicht spüren – wenn sie es zuließe.
Über die Schamgefühle von Überlebenden des Holocaust ist öfter und einprägsam geschrieben worden. So hat Primo Levi von einer Scham über die eigene Hilflosigkeit berichtet, obwohl diese erzwungen war und obwohl sich keiner der Häftlinge in einer Lage befand, in der er sich oder den anderen hätte helfen können.
Aber weil Scham dennoch ein vernichtendes Gefühl sein kann und oft auch ist, sucht auch Gila Lustiger nach einem Ausweg. Ironie klingt an, Distanz wird gesucht im Wechsel zwischen Leib- und Körperperspektive, zwischen Erzählformen, zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem.
Unabhängig davon will Gila Lustiger nicht, dass ihr Vater auf einen Status als Über-Lebender reduziert wird:
Ein Lebender, kein Arbeitstier, kein Unter-Mensch, kein Organismus, den man in seine Organe, Gewebe, Zellen hätte zerlegen können. (…). Nie ist mein Vater ein Über-Lebender gewesen. Immer nur das: sich zwischen parkenden Autos hindurchschlängelnd – ein Lebender. Vor einem reich garnierten Bücherregal glücklich aufseufzend – ein Lebender. […] Mit Glanz auf Nase und Stirn, immer nur das: ein Lebender, einer wie alle anderen […].
Die Autorin beschreibt die reduzierende Perspektive auf einen Menschen als unmenschliche Einstellung gegenüber einer Person. Gegen diese Perspektive schreibt sie an.
Auslegung von Situationen • Getroffensein von Gefühlen
Ob sich jemand von spezifischen Gefühlen treffen lassen kann oder nicht, hänge, erklärt H. Landweer, von der Auslegung der jeweiligen (historischen) Situation ab, die in einer Kultur die dominante Auslegung ist (z.B. die Explikation der historischen Situation Holocaust im Nachkriegsdeutschland). Die »dominante Explikation«, der Gila Lustiger während Kindheit und Jugend ausgesetzt war, beschreibt sie als Erwachsene so:
Diese Befangenheit habe ich mit meiner Großmutter gemeinsam. Und sie beruht auf einem unantastbaren, wenn auch nie ausgesprochenen Gebot, das zu übertreten keiner von uns gewagt hätte: Du sollst nicht über Gefühle sprechen, lautete das Gesetz, und ganz bestimmt nicht über solche, die ein glückliches, friedvolles Leben sabotieren. Denn ein glückliches friedvolles Leben war und bleibt unser gemeinsames Familienprojekt.
Arno Lustiger, deutsch-jüdischer Historiker, der den Holocaust überlebt hat, aber nicht als ›Holocaust-Überlebender‹ etikettiert werden sollte, starb am 15. Mai 2012 achtundachtzigjährig in Frankfurt am Main. Er überwand sein Schweigen in den letzten Jahrzehnten seines Lebens und leistete wichtige historische Forschungsbeiträge vor allem zum Widerstand der Juden während der Jahre 1933 bis 1945.