Von Wörtern, die glücklich oder traurig machen können
Die Nacht hat aufgehört zu kichern. Sie schläft in ihren Stiefeln. Und ein verdatterter Mond schaut zu. Welch ein Bild! Ich finde es 2009 in Dietmar Daths Roman Sämmtliche Gedichte. Auf dem Buchumschlag steht: Dieses Buch handelt von der Jagd auf Wörter, die Menschen traurig oder glücklich machen können. Das, denke ich, ist es. Mit Wörtern gegen das Grau des Zeitflusses; warum sie nicht jagen? Ich tue das Nächstliegende: Ich gehe auf die Jagd nach dem Wort ›Nacht‹. So unsystematisch wie möglich. Nur wenige Quellen gestatte ich mir: den deutschen Lyrikkalender 2009, den Großen Conrady, ein paar Einzeltitel, dazu die gesprochene Alltagssprache. Schließlich will ich glücklich werden oder traurig – nicht verrückt.
›Nacht‹ in der Lyrik
Im Deutschen Lyrikkalender spüre ich reichlich Nachtwild auf: Sterne, die an langen Fäden befestigt sind (Marion Poschmann), der Abendstern, der Wind, die Ewigkeit, die aus der Einsamkeit kommt, die sagt: »Nenne mich Nacht« (Friederike Mayröcker), ein ungeheures Brausen windstiller Nächte, kurz bevor es tagt (Carl Zuckmayer), die Nacht, aus der ein paar Sterne fielen (Hans Georg Bulla). Wir spüren die ›Auren‹ Walter Benjamins, die die Wörter Nacht, Wind, Sterne, Ewigkeit und Einsamkeit umwehen.
›Nacht‹ in der Alltagssprache
Nüchterner wird’s, wenn wir in der deutschen Alltagssprache ›Nacht-Wörter‹ suchen. Zwar ist da die Rede von der ›Liebesnacht‹, die meistens eine schöne ›Sommernacht‹ ist, von ›Nachtschwärmern‹ und sogar von hilfreichen Heinzelmännchen, die immer nachts kommen. Aber häufiger begegnen uns hier ›lange, schlaflose Nächte‹, ›Nachtarbeit‹ und ›Nachtschichten‹: die Ärzte, die Pflegenden, die Eisenbahner, die Bus- und Taxifahrer, die auch ›nachts‹ arbeiten, die Fischsortierer, deren Hände schon kurz nach ›Mitternacht‹ halb erfroren sind, die ›Diebe in der Nacht‹, ‚›nächtliche Kobolde in den Kaminen‹, vor allem aber: ›Kriegs- und Bombennächte‹, ›Nacht-und-Nebel-Aktionen‹, in denen Menschen flüchten, abtransportiert werden, um Haus und Hof, Leib und Leben fürchten müssen, sie alle holen uns ein – vor allem nachts.
Macht der Poesie: Herstellbarkeit von Atmosphären
Kein Zweifel, von Wörtern können Stimmungen ausgehen, Atmosphären oder Auren (was hier für das gleiche Phänomen stehen soll), wie auch die Rede von der ›heiteren Landschaft‹ zeigt, vom ›stillen See‹, den ›bösen Worten‹, die eine Atmosphäre vergiften können. Aber Poesie kann Atmosphären bewusst und kunstvoll herstellen. (Gernot Böhme: Atmosphäre, 1995)
Plötzlich erinnere ich das Gedicht Alter Garten von Arno Holz, in dem es heißt: Kein Laut / Der alte Tümpel vor mir schwarz wie Tinte, / um mich, über mir, von allen Seiten, / auf Fledermausflügeln, / die Nacht … Und da fällt mir auch Herta Müllers 2009 erschienener Hörbuchtitel Die Nacht ist aus Tinte gemacht ein. Ein Titel, der implizit die Herstellbarkeit von Atmosphären beansprucht. Doch elektrisiert mich in beiden Funden das Wort ›Tinte‹; im Zusammenhang mit Nacht gerinnt es zu einem weiteren, beeindruckenden Bild, das ich allerdings bereits 2006 bei Rudolph Bauer fand: … zum schlafen sind die vögel weggeflogen / der duft des oleanders ruht / die berge sind in graue tinte / eingetaucht die gipfel. Naturerleben und kulturelle Formung fließen hier zusammen in das Bild von Nacht und Tinte. Man muss gewillt sein, in diese Wirklichkeit einzutreten, denn, so sagt Böhme 1995: Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.
Walter Benjamins Begriff der ›Aura‹, die ein Kunstwerk im Gegensatz zu seiner Reproduktion umgibt, zielte bereits viel früher auf sehr ähnliche Zusammenhänge. So stellt sich mir auch die Frage, ob es so etwas wie kulturelle Kontinuitäten unserer ›Nacht‹-Wahrnehmungen gibt: Stehen die stillen Gewässer, die tintenschwarzen Tümpel, das Gemacht-Sein aus Tinte, die in graue Tinte getauchten Gipfel in einer Kontinuität artifizieller Nachtbilder, die etwa im 18. Jahrhundert, vielleicht schon früher, beginnt? Ist ›Tinte‹ einer unserer kulturhistorischen Kodes für die Nacht? Eine Kontinuität, in der auch Peter Rühmkorfs Parodie auf Matthias Claudius’ Abendlied (Der Mond ist aufgegangen) stehen könnte, denn hier zieht sich nachts das lyrische Ich die Tintentoga vors Gesicht.
Romantische Gefährten der Nacht: Wind ∙ Duft ∙ Hauch
Wortverbindungen erzeugen – stärker als einzelne Wörter – die jeweiligen Auren. So erinnern wir uns z.B., wenn wir an Goethes Ballade Erlkönig denken, dass Nacht und Wind Gefährten sind. Die Atmosphäre oder Aura, die das Gedicht gleich anfangs erzeugt, ist schaurig-schön. Ähnlich Der Schatzgräber, wo es heißt: Schwarz und stürmisch war die Nacht. Ganz anderes fühlen wir, wenn nicht Wind oder Sturm zitiert werden, sondern ein zarter Hauch, wie bei Ricarda Huch, wo es heißt: Schwerer Duft der Nacht / zog mit müdem Hauch vorüber. Die Atmosphäre, die diesen Zeilen gleichsam zu entsteigen scheint, wirkt zart und schwer und müde zugleich. Eine ähnliche Wirkung erzeugt Georg Heym, wenn er dichtet: Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt ...
Liebste Gefährten: Liebe und Licht
Zu den Gefährten der Nacht zählt auch die Liebe. Ich raube in den Nächten / Die Rosen deines Mundes, / …, sagt das lyrische Ich in Else Lasker-Schülers Gedicht Höre, während Gertrud Kolmar Leda klagend sagen lässt: … mein Wesen stand und rief die Nacht und dich. Die Nacht, die Lichter nennt Clemens Meyer 2008 seinen Band mit 15 Stories, in denen seinen ruhelosen Nachtgestalten in der nächtlichen Stadt so einiges widerfährt. Und selbst in ihren Negationen tritt die Verbindung Nacht und Licht noch auf: Die Nacht ist nicht die Nacht ∙ Das Licht ist nicht das Licht, so der Titel von Joseph Buhls Gedichtband.
Gefährtin Einsamkeit klopft an die Tür
In Autobiografien, Tagebüchern und Krankenberichten kommt die Einsamkeit als Begleiterin der Nacht besonders häufig vor. Die Österreicherin Maxie Wander, die viele Briefe und Tagebuchaufzeichnungen über ihr Leben mit der Krebserkrankung, an der sie 1977 im Alter von 44 Jahren starb, hinterlassen hat, schrieb: Wie grauenhaft, … letzte Nacht hab ich im Traum geschrien. Es hat offenbar niemand gehört oder nicht beachtet, niemand kam, niemand klopfte an meine Tür. Ich hab den Kopf in die Kissen gepreßt und geheult wie schon lange nicht. Wie schon sehr lange nicht … Das ›An-die-Tür-Klopfen‹ ist ein einprägsames Begleitbild der Einsamkeit in der Nacht, das auch Rilke schon gebraucht hat: Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal / in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, – / so ist’s, weil ich dich selten atmen höre / und weiß: Du bist allein im Saal. / Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da, // … Und meine Sinne, welche schnell erlahmen, / sind ohne Heimat und von dir getrennt.
Nacht als Zeit gefürchteter Widerfahrnisse
In der Alltagssprache ist die Vorstellung ›Nacht‹ mit vielerlei Gefährdungen des Menschen verbunden. Die Nacht ist die Zeit, in der die Diebe, die Einbrecher kommen, die Zeit, für die man Sicherheitsglas und Alarmanlagen benötigt, in der man den Haustürschlüssel nicht stecken lassen, die Tür nicht unverschlossen bleiben darf. Doch alles noch so sorgfältige Verriegeln von Türen hilft nicht gegen unsere ›Untermieter‹. Nachts kriechen und krabbeln sie aus Ritzen und Matratzen, aus Wäsche, Kleidung, Haar. Eine große Tageszeitung widmete ihnen in einer ihrer Wochenend-Ausgaben 2009 eine ganze Seite. Da ging es um Milben, Läuse, Wanzen, Flöhe und Fadenwürmer. Sie alle, vor allem aber die Läuse, scheinen sich um Grenzen zwischen Textsorten nicht zu kümmern: Zu spät ins Lager zu kommen, war schlimm. Dann war die Suppe alle. Dann hatte man nichts außer dieser großen leeren Nacht mit den Läusen, schreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemschaukel. Die Nacht ist groß und leer, die Läuse sind das einzige, das sie ausfüllt. Läuse und Nacht als Verdichtung von Lager-Einsamkeit und Hunger.
Nächtlicher Gefährte Tod
Doch es gibt Gefährlicheres als Läuse. Es ist der Tod. Er tritt in Verbindung mit Nacht, vor allem mit ›Krankheit und Nacht‹, ›Einsamkeit und Nacht‹ in vielen Tagebüchern, Autobiografien und Krankenberichten auf. In Horst Karaseks Krankengeschichte Blutwäsche (1987) tritt der Tod nächtens an das Fußende des Krankenbetts: Der Tod (ist) Samstagnacht an mein Fußende getreten; ich bin ihm aber noch einmal von der Schippe gesprungen. Das Bild vom Tod als Schlafes Bruder ist in der Kunst seit Bachs Kreuzstab-Kantate bekannt. In Robert Schneiders gleichnamigem Roman und dessen Verfilmung fand es seinen vorläufigen Gestaltungshöhepunkt.
Hellichte Nacht
Aber der Tod ist mit der Nacht auch noch ganz anders verbunden: Theo Breuer schreibt im b&b-gedicht, das im Gedenken an den frühen Unfalltod des Dichters Rolf Dieter Brinkmann geschrieben wurde: z.b. / … an brink- / mann denken / + ein bißchen das / quietschen + quetschen / fühlen / das mit seinem englischen / tod in hellichter nacht / einherging / …. In hellichter Nacht – ein Beispiel für poetische Mehrdeutigkeit, man kann es vor biografischem und zugleich kulturhistorischem Hintergrund lesen: Das Oxymoron in hellichter nacht als Übertragung eines Merkmals des Antonyms ›Tag‹ (vgl. ›am helllichten Tag‹) auf das Wort (den Signifikanten) ›Nacht‹ wirkt wie ein Aufschrei. Zum anderen sind die hell erleuchteten Großstadtnächte Thema der Lyrik seit dem Expressionismus, zumal mit der einziehenden Helligkeit in die Nächte auch die Lebensgewohnheiten der Menschen in großen Städten sich veränderten. Wahrscheinlich schwingt von all diesen Konnotationen etwas mit: Brinkmann wurde am Tore der Nacht (Julius Overhoff) des 23. April 1975 in London von einem Auto überfahren. Der englische tod in hellichter nacht erzeugt eine Aura der Widersprüche – und des Widersprechens (gegen das grausame Geschehen).
Insignien der Nacht
Gibt es Insignien der Nacht? Insignien als (Hoheits-)Zeichen, die Atmosphäre erzeugen, wie z.B. das Wort ›Aster‹ das Bild des Herbstes heraufbeschwört? Gibt es Insignien in diesem Sinne auch für die Nacht? Wie ist es damit in der Alltagssprache bestellt? Ich vermute, dass Mond, Sterne, Dunkelheit und Kühle zu den Insignien der Nacht gehören; vielleicht auch Wind, Sturm und ungewisse Gefährdungen.
Darüber hinaus fallen unter den Insignien besonders die Antonyme, Synästhesien und Farbbezeichnungen auf. Novalis erfand ein besonders schönes, antonymisches Gefüge: In seinen 1801 erschienenen Hymnen an die Nacht preist er die zarte Geliebte als liebliche Sonne der Nacht. Sonne und (implizit) Mond erscheinen als Antonyme, die das Wort (den Signifikanten) ›Nacht‹ geradezu umstellen. Ausdrücke wie samtene Nacht, in den Nächten, wenn die Rosen singen (Lasker-Schüler) oder die Sterne leise zwitschern (Poschmann) sind durch Synästhesien gekennzeichnet. Kein Wunder, würde Gernot Böhme sagen, werden Atmosphären doch nicht isoliert wahrgenommen, sondern stets von mehreren Sinnen gleichzeitig.
Auch spezifische Farbbezeichnungen im Zusammenhang mit ›Nacht‹ bilden Insignien. Hier müsste von Schwarz, Grau und vor allem Blau gesprochen werden. Die produzierbaren Atmosphären des Wortes ›Nacht‹ sind nahezu unzählbar. Nach kurzer Jagd lässt sich bildhaft sagen: Die Nacht ist schwer beladen mit unterschiedlichsten Zuschreibungen. Viele ließen sich noch entdecken, wenn man systematischer auf die Jagd nach Wörtern ginge, die […] traurig oder glücklich machen können.
* * *
Weiterführend → Vor 100 Jaren starb Georg Heym. KUNO erinnert nicht an ihn mit einem Gedicht, sondern durch seine Prosa.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.