Das Leben ist nicht Wünschdirwas

Es muss immer eine Richtung geben. Vor allem montags, damit „die Füße nicht nur vor sich hintreten.“ Die Ich-Erzählerin ver­sucht das, geht brav und pflicht­bewusst zum Arbeits­amt. Doch für Aka­demi­ker gibt es momen­tan keine Jobs. Viel­leicht will sie auch gar keinen, will nicht immer eine Rich­tung haben, will sich gegen­über Jannes nicht dauernd recht­fer­tigen müssen. Stän­dig nörgelt er herum. Ihre Wohnung sei ihm „zu laut“, in ihrem Viertel würden „nur Spinner“ wohnen. Er findet das Über­tünchen von Graffiti „super“, sie findet es einfach nur „typisch deutsch“. Er wirft ihr vor, sie trete auf der Stelle. „Ich sitze“, antwortet sie.

Katrin Marie Merten, die 2009 mit einem Gedicht­band debü­tierte, legt mit „Rück­wärts­laufen“ nun ihren ersten Prosaband vor. Es ist nicht nur ein Buch mit Geschich­ten, sondern auch eine lite­rarische Selbstsuche der Autorin. In elf Kurz­geschichten verhandelt sie ihren eigenen Ton, ihre Sujets. Haupt­säch­lich spielen zwischen­mensch­liche Bezie­hungen eine Rolle. Es geht um Liebende, Geschwister, Eltern und Kinder, auch Men­schen und Tiere, und oft geht es um das Was-wäre-wenn. Mertens Geschich­ten bleiben in der Schwebe, verhandeln über Mög­lich­keiten: „Die Reise nach Berlin ist eine, die ich nicht gemacht habe.“ Kurz darauf ist die Erzäh­lerin dennoch in Berlin, mit Karl, und versucht, „an der Hal­tung seines schlafenden Körpers den Fort­gang unserer Geschich­te abzu­lesen“. Viel­leicht war das aber nur ein Traum. So genau verrät das die Autorin nie. Auch der Beginn einer anderen Geschichte öffnet ein Verwirrspiel, das nicht aufgelöst wird: „Ich bin die Schwester, die sie sich wünscht.“

Thematisch über Möglichkeiten zu schreiben, heißt in Mertens Fall auch, die Möglichkeiten des Schreibens zu testen. Wie wirkt jener Stil, wie muß man das verpacken, wie wird jene Idee zu einer Kurz­geschichte, welche Mittel benö­tigt man? Passen das Voka­bular und das Tempo? Einige der Erzäh­lungen lassen diese Fragen durchscheinen, weshalb sie an Not­wendig­keit für den Leser verlieren. Zu offen­sicht­lich sind die Kniffe, bestimmte Situationen und Typen literarisch lebendig werden zu lassen. Das wirkt dann wie die Befolgung der Bastel­anlei­tung für Autoren: „Stelle mich vor sie, wenn die Wut in seinem Gesicht wallt, wenn die Wut sein Gesicht in Furchen legt, eiskalte Züge, blit­zende Augen“ – das ist die Darstel­lung eines jäh­zornigen Mann kurz bevor er zuschlägt, wenig raffiniert, wie auch der Rest jener klischee­bela­denen Geschichte: „Wir werden alles vergessen. Der Vater wird nicht mehr schlagen. Nicht mehr laufen über den Flur. Die Mutter wird nicht mehr weinen. Nicht mehr trinken.“

„Das Leben ist nicht Wünsch­dirwas“, sagt der Kapitän in einer von Mertens Ge­schich­ten und das gilt wahr­schein­lich auch für das lite­rarische Schaffen, vor allem zu Beginn. Manch­mal gelingt ein kleines Meister­stück, manchmal geht’s in die Hose. Das schmä­lert diesen Band aber nicht. Denn die meisten Texte verfügen über ver­heißungs­volle Schlüs­sel­reize. Auch wenn manches zu kons­truiert wirkt, um nicht plump zu sein, an anderer Stelle schreibt die Autorin fein, klug und ein­fühlsam und trifft jenen Ton, von dem man hofft, daß sie genau diesen gesucht hat und fes­tigen wird. Es sollte eben immer eine Rich­tung geben, der man leiden­schaft­lich folgt. Daß Katrin Marie Mer­ten genau das tut, weiß man als Leser schnell. Man hat da so eine Ahnung: „Du kennst mich doch gar nicht“, sagte sie, „warum bemühst du dich so?“ – „Ich weiß nicht, es ist so ein Gefühl.“ – „Das ist viel“, hat sie gesagt, „eigentlich alles, was zählt.“

Katrin Marie Merten
Rückwärtslaufen
Edition Muschelkalk
Wartburg Verlag
Weimar 2011
72 S., 11 Euro