Poesie ohne Schonbezüge ∙ Zu Kerstin Beckers Gedichtband Fasernackte Verse

Zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache gehört es, dass das schöne Adjektiv ›nackt‹ zwar grammatikalisch korrekt in konventioneller Weise gesteigert werden kann, aber die entsprechenden komparativischen und superlativischen Steigerungen ›nackter‹ und ›am nacktesten‹ eher ungebräuchlich sind und der bekannteste Superlativ von ›nackt‹ denn auch ›splitterfasernackt‹ lautet.

Der neue, beim FIXPOETRY.Verlag erschienene Gedichtband der Dresdner Lyrikerin Kerstin Becker hingegen heißt Fasernackte Verse. Man kann trefflich mutmaßen, ob das Wörtchen ›Splitter‹ diesem Titel eine Scharfkantigkeit hinzugefügt hätte, die die Autorin nicht wollte. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass die melodiöse Alliteration von ›Faser‹ und ›Verse‹ den Ausschlag gab, dieser suggerierte Gleichklang, der fasertiefe Genauigkeit ebenso mitschwingen lässt wie Ungeschütztheit. Die Achillesferse klingt an, ohne benannt zu werden. Von daher musste Kerstin Becker auch gar nicht erst die Splitter bemühen, um Verletzlichkeit als Konnotation mitlauten zu lassen. Programmatisch ist der Titel allemal.

Was beim Lesen auf Anhieb besticht, ist die schon genannte Ungeschütztheit, eine sinnliche Unmittelbarkeit, die mitreißend wirkt. Die Titel der einzelnen Gedichte bestehen zumeist aus der ersten Zeile, man taucht sofort ein in diese auch rhythmisch stets überzeugende Erfrischungspoesie:

Standen wir unter den Pappeln

hingebeugt und so verschorft wie sie

der Fluss unsere blassen Zehen
mit dunkelgrünem Schlick bedeckt

hast du nicht wir sind am Meer geschrien
und Möwenaugen überall

stehn junge fasernackte Verse
an jedem Halm, der unsere Beine traf

Das titelgebende Gedicht zeigt exemplarisch, dass Natur mit der gleichen Körperlichkeit wahrgenommen wird wie die Liebesgedichte, die den Band motivisch prägen. Aber im Grunde sind es ja alles Liebesgedichte, die nicht abstrakt philosophisch, sondern ohne Umschweife und erotisch direkt zur Sache kommen. Das geht’s auch mal Halsüberkopf über Tische und Bänke – selbst über Kirchenbänke, wenn es sein muss. In dem Gedicht Aus der Kirche steigen akustische Rauchzeichen verschränken sich kirchliche Liturgie und erotische Offensive in wahrhaft atemberaubender Weise:

die Menge murmelt bitte für uns / was ist das
für eine Pinzette in der wir hängen und zappeln
wie Insekten / du knöpfst deine Jeans auf
und schmiegst dein pochendes Fleisch an meines
man nähert sich schon dem Amen / meine Hände
fassen nach deinen Lenden / das ist so das ist wie
wenn einem beim Trinken vor Durst
das Wasser in Bächen am Kinn herab läuft

Die erotische Ekstase als existentielles Bedürfnis wie Hunger und Durst – eine solche Wahrnehmung gibt den Gedichten die richtige Geschwindigkeit, es geht hitzig zu, kompromisslos, unersättlich. Das Kapitel Schwenk der Sanduhr enthält zehn Gedichte, jedem Gedicht ist ein Zitat von Anne Sexton vorangestellt, schließlich verkörperte sie poetische Direktheit und erotisches Freibeutertum als Person in sich. Und von diesem Spirit, diesem Tempo lebt auch die Poesie Kerstin Beckers mit ihren kleinen Aufforderungsimperativen: Liebe das Flackern der Leiber ich sehs / meine Augen sind Wärmekameras dummer / verstockter Kerl was gibt es da noch / zu bewachen / komm / lass mich rein.

Die Enjambements dieser Verse sind ein Stilmittel, das zu dieser atemlosen Verschränkung, dieser unverstellten Direktheit wesentlich beiträgt. Wer aber glaubt, Leidenschaft und forcierte Liebeslust trübten den Blick der Erkenntnis – sowohl bei den Lesern dieser Gedichte als auch bei der Poetin selbst – wird angenehm überrascht sein. Immer wieder trifft man auf Bilder von tiefer Eindrücklichkeit:

Menschen stehen aufgereiht und sehn
die Sonne an ich geh ans Meer
das Möwenschreien ritzt die Luft
wie Mädchen ihre Arme

Das sind Bilder, die bleiben, die so stark sind, dass sie auch die eigentlich schwächende Wirkung des Wie-Vergleichs souverän überstrahlen. Die fehlende Zeichensetzung verstärkt die Unmittelbarkeit, die Synchronität der Eindrücke. Kerstin Becker setzt hier gleichsam Zeichen, ohne Zeichen zu setzen. Wenn es stimmt, wie es Gerhard Falkner einmal gesagt hat, dass ein gelungenes Gedicht einen Augenblick, einen Moment für das Schillern des Lebens bewohnbar mache, dann haben wir hier einen Gedichtband vor uns, der im wahrsten Sinne des Wortes einleuchtet.

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Kerstin Becker, Fasernackte Verse, Gedichte, Vorwort von Jürgen Brôcan, Bilder von Wienke Treblin, 62 Seiten, Broschur, FIXPOETRY.Verlag, Hamburg 2011.

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