Lotz ist ein philosophischer Fusselsammler, der nichts konstatiert, sondern ein Kaleidoskop verschiedener Einzelheiten der Realität entwirft, um ihr durch Aufzählung gerecht zu werden. Er erzählt Geschichten und beschreibt Situationen, ohne sie zu erzählen. „Vom Wind verhinderte Streichholzflammen“, „die trüben Gänge des Ferienheims“ oder „der freigewordene Rollstuhl“ öffnen Perspektiven und Denkräume ebenso wie „das Mädchen mit den schiefen Zähnen“ oder „Tage mit Weltschmerz und Schnupfen“. Lakonie schwingt überhaupt oft mit, beim „traurigen Gesang der Kaffeemaschine“, den „verschlafene(n) Erdbeeren“ oder dem „verzweifelt fallenden Schnee, Ende Mai“. Dann wird es komisch, bei der „fehlende(n) Nachfrage nach Wiesenschaumkraut“, der „Buchführung über Regentage“ oder dem „Sekundenschlaf, auf dem Klo sitzend“. Es gibt noch „Sachen, wie Gegenwart“ oder „Glück, ja auch das“, eine „unersättliche Stechuhr“ oder „Versuchsanordnungen mit Sand und Wind“. Nur selten stolpert man über Sätze, die nicht recht ins Konzept passen („hier war der Ententeich“ oder „du sollst nicht lügen“).
Trotz des eigentlich unmöglichen Vorhabens, mit einer Halbsatzliste eine Ahnung vom Ganzen einfangen, greifen und verständlich machen zu wollen, bleibt Lotz schnörkellos, handelt selbst Begriffsschwergewichte mit Leichtigkeit ab: „Sinnlosigkeit umgekehrt: Tiekgisolnnis“. Dennoch bleiben die Fusseln eben „nur“ Partikel, die weder einen Roman, ein Theaterstück oder einen Gedichtband ersetzen. Vielleicht liegt ihr Reiz aber gerade in ihrer scheinbaren Nebensächlichkeit. In jedem Fall möchte man Lotz‘ Satzfusseln im Gegensatz zu ihren aus Stoff bestehenden Kumpels nicht abschütteln, sondern gern öfter lesen. Die Reaktion darauf ist wie bei einer guten Tragikomödie, wie im Leben selbst: mal lacht man, mal weint man.
„Fusseln“ von Wolfram Lotz
parasitenpresse, März 2012
16 Seiten, 5 €