Vor 10 Jahren starb Heiner Link. KUNO erinnert an den viel zu früh verstorbenen Schriftsteller:
Entspannen, Abspannen, Umspannen. In der Ruhe liegt die Kraft, in der Kraft ruht die Potenz, in der Potenz, nun ja, vielleicht ist das das Problem.
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Mittags ein Viertel trockenen Roten, dazu ein paar Nudeln, und man ist ein anderer Mensch. Da treten die Gesundheitsprobleme in den Hintergrund. Irgendjemand sagte mal, sein Lebensziel sei das Erreichen eines abso-luten Leck-mich-am-Arsch-Gefühles. Ich halte das für eine sehr interessante Dimension.
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Kann passieren was will: Leck mich am Arsch!
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Ach ja. Ich sitze also beim Italiener über meinen Nudeln, und zwischen dem Rotweinglas und der Karaffe hindurch sehe ich lüstern an den bestrumpften Schenkeln eines weiblichen Gastes hinauf und überlege, was ich davon halten soll. Die Frau ist keine 50 und sehr attraktiv. Immer wieder schlägt sie die Beine übereinander, und daß dabei das Kleid immer höher rutscht, stört wirklich niemanden. Sie bemerkt meinen Blick und lächelt. Ein Rotwein bessert die Stimmung, definitiv. Dies ist evident. An die möcht ich mich schon einmal hinlegen. Wie eine Hypotenuse.
Die Kontrapunktierung Heideggers weist gnostische Züge auf, das bayerische Bier wird teilweise religiös verehrt, und ich preise hier italienischen Rotwein an. Als fiele mir nichts Besseres ein. Als könnte ich mir schon mittags Alkohol erlauben. Gravitätisch schreiten können attraktive Frauen auch auf die Toilette. Ein Wadenmuskel allein kann mich in die angenehmsten Schwingungen versetzen.
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Noch ein Viertel? Prego, Signore! Warum nicht einmal sitzen bleiben und über das Leben nachdenken? Kann eine Erzählung tatsächlich fraktal strukturiert sein, können da Landschaftsformen figurieren? Es fällt mir auch auf, daß der Rotwein noch ein bißchen jung ist. Blaustichig liegt er im Glas und hinterläßt am Gaumen ein sanftes Brennen, das aber schnell abebbt. Ich mag Frauen, die Kleider tragen. Kleider sind mir eine Freude, Hosen sind doch militärisch.
Der Begleiter dieser Frau sieht aus wie ein Zahnarzt. Bunt bebrillt und ein blaues Hemd mit weißem Kragen, Manschettenknöpfe. Ich mag keine Zahnärzte. Was ist das nur für ein Beruf? Anderen Leuten im Maul rumzufummeln. Im rosigen Fleisch fremder Mäuler zu grabschen. Chirurgenfinger natürlich, lang und schmal und feingliedrig. Schon alleine wegen meiner Fingerphysiognomie könnte ich nie ein Zahnarzt sein. Eher ein Holzfäller. Meine Finger sind kurz und drall und kräftig. Eine Klaviersonate könnte ich niemals spielen. Eine Klaviersonate würde sich sehr merkwürdig anhören, bei meinen Fingern.
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Ich sitze bequem und rauche und glotze. Das Kleid dieser Frau ist blau und ihre Schuhe ebenfalls. Das ist ein schöner Kontrast zu ihren blonden Haaren. Vom Ohrläppchen baumelt ein goldener Ring. Einmal hineinbeißen in ein solches Ohrläppchen. Tja. Aber der Zahnarzt könnte auch ein EDV-Mann sein. Ein Spezialist. Ich mag keine EDV-Spezialisten. Was ist das nur für ein Beruf, den ganzen Tag logisch denken zu müssen. Da müssen die Hirnwürste schon sehr geordnet sein. Bei meinen Hirnwürsten kann von Ordnung nicht die Rede sein, die liegen da wie ein hingeschmissener Gartenschlauch. Der Kellner erkundigt sich nach meinem Befinden. Mein Befinden liegt dem Kellner am Herzen. Mein Befinden neigt zu einem weiteren Viertel Roten. Goldene Gebißhaken funkeln zwischen seinen Zähnen, da kann es sich wohl kaum um ein lückenloses Gebiß handeln. A propos: Ein Autor, dessen Helden existentielle Dinge erleben, denkt nie primär von der Form her. Ich schaue mir also den Hals dieser Frau an. Der Hals einer Frau ist mir besonders wichtig. Manche Frauen haben Hälse, die sogar mit meinen kurzen Fin-gern umschließbar wären. Diese Frau hat einen solchen Hals, ein ganz wunderbarer Hals. Tja.
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Der Mann an ihrem Tisch könnte eigentlich auch ein Steuerberater sein. Ich mag keine Steuerberater. Was ist das nur für ein Beruf? Den ganzen Tag mit Zahlen zu hantieren. Da müssen die Hirnwürste ja tabellarisch an-geordnet sein. Ein Steuerberater könnte ich nicht sein. Formen Sie doch mal einen Gartenschlauch zu einer Tabelle.
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Der Mann küßt die Frau. Mitten im Lokal, mitten am Tag. Er beugt sich nach vorn, und seine Krawatte mit expressionistischen Motiven hängt im Salz- und Pfefferständer. Lang küssen sich die beiden. So wie er küßt, könnte er auch ein Rechtsanwalt sein. So fordernd. Ich mag keine Rechtsanwälte. Was ist das nur für ein Beruf? Jedem Idioten zu seinem Recht zu verhelfen. Wie müssen da die Hirnwürste aussehen? Aporien, Aporien, Aporien. Aber was ist schon ein Fortschrittsparadigma gegen diese Beine. Locker wippt das Bein dieser Frau die Luft unter dem Tisch durcheinander, und der Kellner bringt mir einen Grappa. Ich scheine eine Verzehrschallmauer durchbrochen zu haben.
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Der Mann legt jetzt die Hand auf die Hand der Frau. So wie er seine Hand auf die Hand der Frau legt, könnte er auch ein Werbefachmann sein. So vereinnahmend. Ich mag keine Werbefachleute. Was ist das nur für ein Beruf? Aus Scheiße Gold zu machen. Von den Hirnwürsten will ich in diesem Zusammenhang einmal nicht reden. Es müßte draußen regnen, weil dann wirds drinnen immer so gemütlich und niemand verspürt wirklich den Wunsch, das Lokal zu verlassen. Vielleicht erreicht man das totale Leck-mich-am-Arsch-Gefühl nur über Meditation? Ich halte mich also an meinem Weinglas fest und singe ein langes und tiefes O in mich hinein, bis hinunter in den Dickdarm summt der Ton und versetzt mich in ein seltsames Vibrieren. Nicht unangenehm, aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß es nicht funktioniert, wenn es mir nicht gelingt, den Blick von dieser Frau zu wenden. Schon treten die linken Hirnwürste gegen die rechten an, ein dreiminütiges Gemetzel, und schon hängt mein Blick stumpf im geblümten Vorhang. Es sind ganz gräßliche Blümchen, chromdioxydgrünes Blattwerk und zinkfarbene Blüten vor taubenblauen Hintergrund.
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Das O, das Vibrieren und dieser Scheißvorhang.
Zum Meditieren muß man schon geboren sein.
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Ich winke mir den Kellner heran und bitte ihn, den Begleiter dieser Frau zu fragen, was er von Beruf ist. Wie Sie wünschen, Signore, er geht hinüber und unterbricht die Turtelei. Das ist durchaus spannend, und um mir die Zeit zu verkürzen, denke ich über den politisch-ästhetischen Spätmodernismus in der deutschen Gegenwartsliteratur nach. Doch der Kellner steht schon wieder an meinem Tisch:
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Es tut mir leid, Signore, der Mann meinte, Sie könnten ihn am Arsch lecken.
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Affen zeichnen nicht von Heiner Link, Reclam Verlag Leipzig, Juli 1999