Landflucht ist zurzeit nicht nur in Deutschland in. Viele streben in die Städte. Der Arbeit, des abwechselnden Kulturangebots wegen, und um in städtischer Anonymität der sozialen Kontrolle auf dem Land zu entgehen. Aber auch dörfliche Langeweile und der Wunsch nach Abenteuer sind sicherlich Auslöser.
Marie, die Protagonistin in Leander Sukovs Roman, entflieht ihrem verschlafenen und idyllischen Ex-DDR-Dorf, dem Vater, der IM bei der Stasi war, und der Mutter, die »ein Bein hinter sich herzieht«. Sie flüchtet aus einem Land, in dem viele glaubten, sie wären von morgen, und die nach dem Scheitern des so genannten realen Sozialismus einsehen müssen und nicht unbedingt wollen, dass sie doch Gestrige sein sollen.
Mit Hilfe der Eltern zieht Marie ins ›wiedervereinte‹ Berlin, in ein Gründerzeithaus mit Balkon zum Hinterhof. Vater und Mutter kehren danach in ihr Dorf zurück, und sie versucht, ihr Leben in der Stadt, die »bunt und grau und laut« im Gegensatz zur ihrem Herkunftsort ganz und gar nicht schläft.
Marie fühlt sich bald einsam und will selbstverständlich nicht einsam sein
Sie macht sich auf den Weg. Lernt in Kneipen und auf der Straße vor allem Männer kennen. Vom kleinen, aber unreifen Revoluzzer bis zum väterlichen Freund. Mit allen geht sie ins Bett, süchtig nach Wärme und Nähe, doch unfähig zu lieben. Auch in einer lesbischen Beziehung mit einer Gastwirtin sucht sie vergeblich tiefe Liebesgefühle. Und selbst, wenn sie aufrichtig geliebt wird, kann sie diese Liebe nicht erwidern.
Zugleich ist Marie ein politischer Mensch, der Widerstand gegen Ungerechtigkeit leistet und sich der sozialistischen Ideologie und dem Antifaschismus verbunden fühlt. Auf der Suche nach Wahrheit, die ihrer Suche nach wahrer Liebe entspricht, leidet sie immer wieder unter der Verlogenheit unserer gegenwärtigen Verhältnisse, ohne selbst dieser Verlogenheit entgehen zu können. So macht sie vor allem in sexuellen Beziehungen immer wieder Liebe vorspielend mit, wie ihr Vater als IM aus Angst in der DDR Linientreue heuchelnd mitgemacht hat. Ihn verachtet sie dafür, da er nicht aus Überzeugung handelte.
Sie selbst fühlt sich bei ihrer Heuchelei nicht wohl
Nachdem sie ein Opfer von Polizeigewalt bei einer Demonstration gegen Rechtsradikale wurde und sich dabei schwere Verletzungen einhandelte, findet sie endlich den Mann, der sie trägt und tragen kann. Bei ihm kann sie sich fallen lassen und zum ersten Mal echte Liebe spüren. Damit hat der Roman ein Happy End. Allerdings verliert Marie den Geliebten kurz darauf unter tragischen Umständen.
Sukov hat eine dichtgedrängte ereignisreiche Liebesgeschichte einer jungen lebenshungrigen Frau geschrieben, die zwischen ideologischen Ansprüchen und emotionalen Wünschen einen Lebensweg sucht. Zwischen diesen Widersprüchen ringt sie sowohl um die eigene politische als auch menschliche Glaubwürdigkeit. Und im Epilog findet sie dann endlich zu einer Identität, mit der sie für sich feststellen und zugleich bitten kann: »Nennt mich Marie. Ich bin keine von den Anderen» … »Lasst mich allein.«
Sukovs Roman ist ein gelungener Versuch, die jüngere deutsche Vergangenheit belletristisch aufzuarbeiten. Er lässt tiefe Einblicke in das Innenleben jener zu, die ihre Wurzeln in der vermutet gesellschaftlich fortschrittlichen DDR hatten und die sich jetzt dem Kapitalismus des Westens ausgeliefert sehen, der längst einer ausbeuterischen Vergangenheit angehören sollte.
Leser, die mehr und vor allem auch emotional von der nur bedingt gelungenen Vereinigung der einstigen beiden deutschen Staaten verstehen wollen, kann er eine äußerst erkenntnisreiche Lektüre werden. Doch auch Leser, die eine ehrliche und moderne Liebesgeschichte lesen wollen, in der es um das Spannungsfeld zwischen Geborgenheit und Freiheit geht, werden den Roman mit großem Gewinn lesen können.
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Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod, von Leander Sukov. Kulturmaschinen Verlag, Berlin, 2012, 279 S., € 17,80