Das Grauen fordert zur Dokumentation heraus, es beeinflusst in sarkastischer Weise seit jeher die Werke bedeutender Künstler. Was den Schrecken der Konzentrationslager betrifft – er hat den Anstoß für eine ganze Reihe aufrüttelnder Bücher geliefert. Martin Straub, einer der Nestoren der thüringischen Literaturszene, sprach im Hinblick auf das wohl symbolischste, dem Kultur-Mythos Weimars entgegengesetzte Lager seinerzeit von einem »Dichterhaus Buchenwald« diese frühe Erfahrung sollte auch das gesamte Werk des ungarischen Erzählers und Essayisten Imre Kertész prägen. Dessen langer Weg in die Öffentlichkeit konnte sich im letzten Jahrzehnt dank höchster Ehrungen konsolidieren, es wäre einem »Fiasko« gleichgekommen, diesen Vertreter der Weltliteratur, der als Jugendlicher die Höllen von Auschwitz, Buchenwald, Rehmsdorf überstand, nicht gebührend zur Kenntnis zu nehmen.
Der Jenenser Kulturwissenschaftler und Autor Dietmar Ebert hat sich jahrelang mit dem großen und singulären Werk des ersten ungarischen Literaturnobelpreisträgers befasst, und er hat Literaturwissenschaftler, Weggefährten und Bewunderer Imre Kertézs‘ zur Mitarbeit eingeladen. Herausgekommen ist ein Kompendium über ein erschütterndes, reiches, beeindruckendes Œuvre, das von frappierender Genauigkeit ist und stilistische Parallelen zur Musik des zwanzigsten Jahrhunderts aufweist.
Dabei kommen neben dem Herausgeber, der zugleich der Hauptautor der Monografie ist und durch das erzählerische wie essayistische Gesamtwerk des Ungarn mit fundierten, tief lotenden Aufsätzen führt, zahlreiche, berufene wie prominente, Stimmen zu Wort. So berichtet László F. Földényi von den Schwierigkeiten Kertesz‘, die er angesichts seiner zunächst als »einseitig« und nicht »repräsentativ« für sein Land apostrophierten Bücher zu bestehen hatte. Ilma Rakusa untersucht in ihrem Aufsatz die Ambivalenz des Lachens im »Galeerentagebuch«, in »Fiasko« und »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, während Ingo Schulze den Einfluss von Imre Kertész auf das eigene Schreiben verdeutlicht. Beigegeben sind ein Gespräch mit Lothar Csoßek, Leiter der Gedenkstätte in Rehmsdorf bei Zeitz, dem ehemaligen Außenlager von Buchenwald, fünf Fotoessays von Jürgen Hohmuth und sogar der Versuch, Kertész zu »komponieren«: Stefan Litwins Adaption findet sich in Notenbeispielen ab Seite 199.
Ebert zeigt, wie sich Kertész dem zentralen Gegenstand seiner Erwägung nähert, er beschreibt, wie der »Roman eines Schicksalslosen« einen alles andere als einfachen Weg nimmt, um in der Literatur den ihm längst gebührenden Platz einzunehmen. Symptomatisch, dass die erste deutsche Übersetzung des Buches in den Wendewirren untergehen musste – erst eine zweite, neu in Angriff genommene Übertragung bringt die dem Buch angemessene Aufmerksamkeit. Ebert dazu: »In der Tat überschlugen sich die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse, und kaum jemand war in der damaligen Zeit ruhig genug, um mit klarem Blick zu erkennen, dass 1990 ein Werk von weltliterarischem Rang erstmals in deutscher Übersetzung vorlag.« Vor allem beweist Ebert die Wucht und Wirkkraft jenes als »atonales Erzählen« gekennzeichneten Stils von Kertész, der es erst möglich macht, über das Erlittene in einer kühlen, mental fast unbewegten Tonart zu sprechen. Mit hohem musikalischem Kompositionswillen, auch jenseits des Moralisch-Mentalen gibt Kertész die wohl ungewöhnlichsten Einblicke in die mögliche Ent-Individualisierung des Menschen, er gibt der Trennung zwischen Leib und Geist, um zu überleben, so erst eine Stimme.
Dieses Buch, das versucht, die Quintessenz des Kertész’schen Werks aus nahezu jedem Blickwinkel zu erfassen, ist nicht nur die ideale Ein- und Seitenführung zu den Büchern des Wahl-Berliners, es sollte nicht nur als Standardwerk zur weiteren Öffentlichkeit einer großen Schriftstellerpersönlichkeit beitragen, sondern auch als Nachweis für die Möglichkeiten individueller Aufarbeitung, Erfassung des katastrophischen zwanzigsten Jahrhunderts mit absolut besonderen Mitteln dienen.
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Das Glück des atonalen Erzählens, Studien zu Imre Kertész. Dietmar Ebert (Hrsg.). Mit Fotoessays von Jürgen Hohmuth Dresden: Edition Azur
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→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.