11 · ich bin manisch
Total · total · total wie fast immer – »Was vom täglichen Leben und Lesen / in die Falten des Großhirns / sickert«, setzt Maximilian Zanders Gedicht ein · bin ich manisch? · ich bin manisch – überschwemmt, flieh oder flieg (ich), vom Ich-bin-in-meinem-›Element‹, der Nadelarbeit der Augen · tatsächlich bin durchsägt von Universum · hatte nicht Auge noch Ohren für Ding und Wort und Bild und Strauch und Buch und Blume · überschwemmt von Abschieden, Abschweifungen, Ahnungen, Anfängen, Anschaulichkeiten, Ansichten, Anzeichen, Auf|sätzen, Augen|blicken, Allusionen · überschwemmt von Beobachtungen, Besch|reibungen, Bildern (»Ich und die Bilder« · Nikolai Vogel / »blau steht der Baum« · Ingrid Fichtner), Blicken, Blumen (dunkles Blut einer Pelargonie), Bonmots, »brombeeren, brombeeren« (Inger Christensen), Buchstaben, Büchern (wenn ich in einem Buch zu lesen angefangen habe, will ich nicht, daß jemand anderer es zur Hand nimmt und ebenfalls darin zu lesen beginnt, das stört den direkten Kontakt zwischen mir und dem Dichter und verhindert, daß etwas in mir zur Wahrheit wird …), B|r|u|c|h|stücken · überschwemmt von »cathedral tunes« (Emily Dickinson), Chaos, Chiasmen, Chimären, Crescendos · überschwemmt von Denkbildern, Denkzetteln, Details, Dingen, Diminuendos, Doppelgängern (»Es wimmelt in der Literatur nur so von versteckten Doppelgängern« · Kuno) · überschwemmt von Echos, Einsprengseln, Enden, Erfindungen, Erinnerungen (ich vergesse ja alles, ich bin, um die Wahrheit zu sagen, ein Mensch ohne Erinnerungen geworden, ich habe buchstäblich alles vergessen), Erinnyen, Ewigzeiten · überschwemmt von »Fangnetzen« (Mikael Vogel), Farben, Fassaden, Fetzen, Flüchtigkeiten, Fragmenten, fürchterlichem Frohsinn · überschwemmt vom Gehen · überschwemmt von Gedanken: »Happiness is air olive trees flowering sugarcane (the sight of it)« · José Kozer, Gerüch[t]en, Grundsätzen, »Gesang« und »guten Geistern« (Hölderlin) · überschwemmt von Halluzinationen, Hirnen, »Hyperion« · überschwemmt von Ideen und Idiosynkrasien · überschwemmt von Jin und Jang · überschwemmt vom Kommen · überschwemmt von Klängen, Klecksen, Konsonanten, Katachresen · überschwemmt von Lautmalereien · überschwemmt vom Leben (200 Jahre mindestens. Meiner Ansicht nach dürfte das Ende überhaupt nicht kommen. Man müsste so lange weiterleben, wie man gerne lebt, und vielleicht kommt dann eines Tages die Stunde, wo man sagt: »Jetzt habe ich genug. Jetzt möchte ich abtreten.« Aber an und für sich sollte der Mensch so lange leben können, wie er es wünscht), Lieben, Lieblingen, Liedern, Luftgeistern, Lügen · überschwemmt von Material (»Seit kurzem liegen morsche Balken und zerbrochene Dachziegel auf einem Haufen, zerbröseln unter Brombeergestrüpp« · Jacques Josse), Memoiren, Menschen, Metamorphosen, Mnemosyne, Monologen (und hätte ich dieses mein Schreiben nicht), Morphemen, Musik (also aus allem beziehe ich meine Sprache, Material aus verschiedenen Quellen, Bild, Gespräche, Musik, überhaupt die Musik, überhaupt habe ich der Musik immer unrecht getan, sie immer ins Unrecht gesetzt oder wie soll ich sagen, vermutlich habe ich die Musik immer nur für meine literarischen Vorhaben ausgebeutet, mein Verhältnis zur Musik st immer parasitär gewesen, überhaupt mein Verhältnis zur Welt, zu den Menschen, also die wankendsten Fundamente einer Gedankenwelt .. mit vielen Federn und Federkielen und wie es mich in halluzinatorische Stimmungen versetzt hat ..)· überschwemmt von Namen, Noten und Notizen · überschwemmt von Okeanos, Orakeln, Originalen, Orten · überschwemmt von Phantasie-Passagen, Pflanzen (die im leichten Wind schwankenden Dolden des Schierlings), Positionen · überschwemmt von Quastenlärm, Quellen, Quintessenzen (»Quer durch den Schlaf / die Buchstabenspur / einer Sprache die / du nicht verstehst« · W. G. Sebald) · überschwemmt von Räumen, Reden, Reisen, (was werde ich mir dorthin alles mitnehmen wenn es ans Ende geht), Reflexen, Reflexionen · überschwemmt von Sätzen, Silben, Sounds, »Spiralen« (Derrida), »spitzennoten ausm äther« (Susanne Eules), Splittern, Stachelhalmwäldern, Steinen (betrachtete die während des Spazierengehens aufgelesenen Steine in meiner Hand), Stimmungen · überschwemmt von Tätowierungen, Täuschungen, Tautropfen, Toden (Am 2. Februar 2012 schneit die Nachricht vom Tod Wisława Szymborskas – »Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben, lieber / als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben« – ins Haus, draußen Temperaturen um minus 13°C, hier unten vereisen die Scheiben. Wenn ich über den Tod schreibe, ist das eine positive Beschäftigung. Ich kann mich dann mit der Sprache gegen ihn sträuben. Es ist eine Metamorphose der Angst vor dem Tod. Aber nur für die Zeit, in der ich schreibe. Die Angst kommt immer wieder), Tohuwabohu, Topographien, Tränen, Träumen · überschwemmt von Umlauten und Urlauten (»Wir baun die Welt aus den Unendlichkeiten« · Jakob van Hoddis) · überschwemmt von Vergiszmeinnicht (sehr viele Wörter kommen mir abhanden), Vermutungen, Verzweigungen, Vögelchen (ihr Gesang tröstet mich / diese rasende Poesie, etwas zwitschert beim Tippen), Verben (»Zukunft, / merk dir’s, / gibt es manchmal / nur in den Verben« · Matthias Göritz), Verwunderungen, Verzweiflungen, Vokabeln, Vokalen, Vorspiegelungen, »irrsinnigen Vorstellungen« (Marcel Beyer) · überschwemmt von Wahrnehmungen, warmen Wörtern (»nach welchem wort geht die welt zu ende«, fragt Wolfgang Hilbig), »Wasserschrift / Welle um Welle« (Marie T. Martin), Wiederholungen bestimmter Wörter, Wirbeln, Wolken (»die Wolken hetzen« · Ingrid Fichtner), Wortschätzen (»wortlos ins strudelnde Wasser« · Martin Jankowski), Wünschen (du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus / keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach / zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen / zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund / die Gestirne das Gras die Blume den Himmel), Wundern, Weh- und Wutgeheul · überschwemmt von Zahlen, Zerreißungen (ich bin 1 Fauvist der Sprache), Zetteln, Zitaten (Zitat ist Teil meiner Schreibmethode / »Es gibt für mich keine Zitate, sondern die wenigen Stellen in der Literatur, die mich immer aufgeregt haben, die sind für mich das Leben« · Ingeborg Bachmann), Zufällen, Zuständen, Zusätzen; es ist immer alles gleichzeitig da, die Gegenwart und die Vergangenheit, und vielleicht ein Blick in die Zukunft. John Burnsides »A Lie About My Father« hängt schwer noch in den Klamotten: »The last thing I would want to do is make a lie of it« (und »Glister« wartet … dräuend, fordernd: »Nothing else. No other sound, and nothing to see but the vast, pure light into which I step of my own free will, over and over again, at the end of a story that I am already beginning to forget«), Cormac McCarthys »The Road« erst halb gelesen: »She would do it with a flake of obsidian«, gefangen vom »historischen Rauschen« in den Gedichten von Thomas Kling, usw., lese ich, im kühlen Sonnenschein am Morgen, »Auf meine Art«, Hans Benders neue Gedichte, Franz Kafkas »Fahrgast« schießt peinvoll in den Kopf: »bin vollkommen unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt«, nun sitze ich hier – und keineswegs grausam – mit Friederike Mayröckers ich sitze nur GRAUSAM da und lese und lese ich sitze nur GRAUSAM da und denke, fühle, höre, gleichlaufend, betäubt von dem Duft der Narzissen, gleichzeitig, parallel, polyphones Geflecht, simultan, synchron, auf einmal, pars pro toto, den ersten Satz der 15. Sinfonie von Schostakowitsch – oder ich bin nur Fiktion gewesen / ich habe alles erfunden:
1 Fortreiszen, 1 sich von jedermann fortreiszen lassen, sage ich zu Ely, kein Rückgrat zu zeigen, Wurm sein, sage ich, dahinschleichen, -schleimen – als Agave geboren zu sein und dann marschieren : in die unbekannte Welt hineinmarschieren, nämlich was diese geschwungenen geschwellten bebenden jungen Bäume angeht, in den Alleen der Stolberggasse so seien sie übers Jahr aufgeschossen, sie haben sich so auszerordentlich streng belaubt und bereichert dasz es schien, sie seien eingehüllt in einen dichtesten Gesang
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→ Teil 2/3
→ Teil 4/5
Der abschließende 8. Teil des Essays Überschwemmt, die Lust am Taumel (Matrix 28, S. 17 – 34) folgt morgen.
Die in den Text eingefügten Bilder stammen von der in Wien lebenden Künstlerin Linde Waber und sind ebenfalls in Matrix 28 zu finden:
Postkarte Nr. 2 ∙ Collage mit FM-Zettel
1 Sackerl Poesie von F. für Linde
Postkarte Nr. 1 ∙ Collage mit FM
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.