44 · every window in every house
Habe gerade die Sprache erfunden rasende Sprache Friederike MayröckerWeiter in diese ineinanderrankenden Gedankenmammutbäume kletternd, möchte saphirene Texte schreiben tatsächliches Blau, in deltamäandernde Bewusstseinsströme eintauchend, in den Fingerspitzen kribbelt Buchstabenwelt – als »souveräne Eigenmächtigkeit gegenüber der Sprache« beschreibt Ernst Jandl die virtuos beherrschte Kunst Friederike Mayröckers, übermächtiges Schreien im Akt des Schreibens / Schweigens, und hätte ich dieses mein Schreiben nicht, in fortreißend rhythmische Formen zu bannen, aus dem gleichsam amorphen Material, die Materie ist immer irreal wie die Wellen des Meeres, elegischekstatische Wortkunst zu machen –, mich von dieser von human factors durchpulsten Stimme auf weit ausschweifenden Gefühlsbahnen, Erzittern des Erzählens : 1 Flattern im Hinterkopf, in den Bann ziehen lassend, wird um so natürlicher, selbstverständlicher, unzweifelhafter, was ich bei John Burnside lese:
There are psychologists who believe that we record every word we ever read, every picture we see, every event, however small, every window in every house on every street we ever walk in a lifetime of books and streets and pictures. We record it all and file it away, awaiting for it to be recollected: the vast disordered encyclopaedia of one human existence. At some point, when they are most needed, we recover images we never knew we had, and make of them what we can: a story, a lie, a dream, a life.
Story · lie · dream · life · Leben · Traum · Lüge · Geschichte · Lügengeschichte · Traumleben · Geschichtslüge · Lebenstraum · Nebenraum · Lebensbaum · Nebelschaum – es ist etwas Tiefgründiges weil ich an der Brunnenstiege sitze und auf meiner kleinen Mundharmonika spiele während ich die Empfindung habe daß alles um mich in eine Vibration – »awaking to be reconnected«. »Die Gefahr, daß man den Verstand verliert, ist nicht gering« · W. G. Sebald. So klettre ich, mit »nervösen Augen / trauriger Fisch ohne Schwarm« (Kerstin Becker), aus der Kaverne, stürze vornüber so rasante Gefühle hinreißende Sehnsüchte, »sehe Plakatfetzen Fledermäuse« (Christine Kappe), kollere, kollere, »landete im zungenhohen gras« (Semier Insayif).
55 · Ely
What’s your name? Ely. Ely what? What’s wrong with Ely? Nothing. Let’s go. Cormack McCarthy · The RoadEin paar Straßenzüge weiter in McCarthys beinahe menschenleerem Romanraum lese ich (natürlich beziehe ich die Tageslektüre in meine Schreibarbeit ein): »Is your name really Ely? No. You dont want to say your name. I dont want to say it. Why? I couldnt trust you with it.« Wie könnte McCarthys am gottverlassenen Straßenrand hockender, in Lumpen siechender Ely, (»Eli, Eli, sabachtani?« schießt mir Matthäus – 27,45 – durch Stirn und Schläfe in den Schädel), mir noch einmal aus dem Kopf gehen, taucht Ely (wie sich, by the way, Derrida, in »Circonfession«, bezeichnet) schließlich in ich bin in der Anstalt und ich sitze nur GRAUSAM da als Ansprechmensch auf, der Persona und Leser gleichsam auf Schritt und Tritt begleitet, es ist 1 taumelnde Sicht es ist 1 taumelnde Welt, sage ich zu Ely, beim Anblick seiner, Gerhard Richters, Gemälde, man weisz nie wie die Geschehnisse zu betrachten sind, sie befinden sich in einem beständigen hinreiszenden Taumel, nicht wahr, sie können so oder so verstanden werden, sage ich, und es scheint sich alles zu wiederholen, sage ich, 55.500.000 Treffer für »Ely« beim spontanen Googeln erzielt, ich komme von Ely nicht weg, der verfolgt mich irgendwie –
Mir träumte 1 überflutete Figur, sage ich zu Ely, aber der Traum löste sich auf wie Wolken sich auflösen, es waren schon einige Stunden vergangen gewesen, mir träumte Picassos Harlekin oder Pierrot mit Nickelbrille aus der »rosa Periode«, wir wechselten in den Schatten weil 1 Tisch freigeworden war und Ely sagte »die Kinoleinwand vor uns oder der Fernseh Kasten«, nämlich 1 Gruppe Kunststudenten welche uns gegenübersasz und sich leise unterhielt eines der Mädchen mit perfektem Haarschnitt etc., (Nam Jun Paik auf dem Monitor, als »TVBuddha«) nämlich auf den Fersen sitzend, 1 galanter Wind, sagte Ely
»Lies weiter, lies weiter.« Ungläubig (»Das Leben kann man nur rückwärts verstehen, und vorwärts muß man es leben« · Brigitte Struzyk) schau ich auf: Ja, Kraus will, daß ich weiterlese. Während des Gesprächs über all das, was an Wörtern Platz hat in den lyrischprosaischen Büchern, es ist cut-up es ist Malerei was ich schreibe, alles, einfach alles hat Platz, rufen, schreien und schreiben wir, ohne Absprache, quer und kreuz allerhand Assoziationen in den Raum, trotz meines hohen Alters fühle ich mich manchmal wie ein Kind, uns, naturgemäß, prächtig dabei amüsierend, und ich schreibe, »écrire c’est choisir« (Pierre Kretz), diese Wörter, lachend, mit (schmuggle nachher noch ein paar hinein): Aal / Affe / Alltag · Baum / Bein / Bordell / Bordüre / Brust / Buch (und hätte ich dieses mein Schreiben nicht) / Blume / Butter · Chiasmus / Chimäre · Drachme / Distanz · Eiszapfen / Erinnerung · Fax / Fee / Flaum / Fledermaus / Fratze / Fuchs / Fund · Garten / Geld / Gezeter / Giraffe · Hand / Hund · Idee / Idiosynkrasie · Ja / Jubel / Junge · / Käse / Kerze / Klo / Krankheit / Kranzfurche / Krapfen / Kummer / Kutter · Land · Lachen / Laune / Lunge / Lektüre / Lust · Mädchen / Mutter / Muttermal · Name (du wirst bei deinem Namen benannt, sage ich zu Ely, aber du bist nicht gemeint, sage ich zu Ely) Nase / Neuigkeit · Ohr / Ort / Osten · Paragramm (rauschend raschelnd / usw.) · Pfand / Pflanze · Querulant · Rädchen / Rand / Rätsel / Raum / Reiberei · / Sache / Schwanzlurche / Seele / Sehnsucht / Spatz / Spiel / Spur / Stein / Stiefmütterchen / Summer · Träne / Traum / Trubel / Tuch · Uhr / Uhu / Utopie · Vase / Verliebtheit / V-Frau / Vision / Vogelschnabelblumen · Wache / Wal / Wand / Wanze / Welt · Xenophobie · Yeti / Yucca / Yvonne · Zahl / Zebra / Zeitung / Zikade – usw./etc.) – – – hatte ich zum FM-Buch gegriffen, die Passage zitiert, Bensch nickt bedächtig, stimmt zu, ich lese also weiter:
Ich faltete die Hände und hockte mich ins Geäst, in der Morgenröte das ist nicht einfach so 1 Schriftstellerei, sage ich zu Ely, weil ich schreibe mit der Seele, ich reibe mich auf, sage ich zu Ely, leuchte die finstersten Winkel der Welt aus, mit meiner Seele, meine Seele ist 1 kl.Taschenlampe, meine Seele ist 1 kl.Tier – es krabbelt in meinem Brustkorb umher ich kann es spüren wie es krabbelt, es ist vermutlich der Beginn einer Krankheit, sage ich, meine Seele geht zum Komponieren auf 4 Beinen, sage ich, sie krabbelt in meinem Brustkasten, geht auf Distanz.
Der abschließende 8. Teil des Essays Überschwemmt, die Lust am Taumel (Matrix 28, S. 17 – 34) folgt morgen.
Die in den Text eingefügten Bilder stammen von Karl-Friedrich Hacker (Itzehoe) und sind ebenfalls in Matrix 28 zu finden.
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.