Kühn
Heute hatte ich eine ›kühne‹ Idee: Ich wollte nach über zehn Jahren mal wieder eine Buchhandlung besuchen. Der Leser möge an dieser Stelle nicht glauben, dass ich eine Kulturbanausin bin. Weit gefehlt – ich schreibe selbst Bücher. Aber meine Motivation, in einen Buchladen zu gehen, hat in den letzten Jahren immer mehr abgenommen. Was sollte ich dort?
Wichtige Bücher lieh ich mir aus der Bibliothek, sonst wäre ich bereits verarmt. Ganz wichtige Bücher ließ ich mir schenken, brandaktuelle Bücher bestellte ich per Internet, damit ich den Schreibtisch nicht zu verlassen brauchte, und wenn ich selbst Bücher verschenken wollte, nahm ich, der Einfachheit halber, die eigenen.
Heute allerdings trieb mich eine quasi wissenschaftliche Fragestellung: Welche der ›anspruchsvollen‹ Literaturzeitschriften werden in dieser Stadt überhaupt noch über den Buchhandel vertrieben? Auslöser für meine kleine Forschungsreise war ein Freund, der einen Beitrag für die aktuelle Ausgabe der Ludwigsburger Literaturzeitschrift Matrix 28 verfasst hatte, den ich gern in gedruckter Form in Händen halten wollte.
Die erste
Die erste Buchhandlung, die ich aufsuche, ist eine, von der ich viel halte. Man hat hier die ›Literaturtankstelle‹ ins Leben gerufen, ein Regal, in dem es Werke junger, hannoverscher Autoren gibt, teilweise im Selbstverlag, immer aber liebevoll und originell, und immer überraschend. Hier macht man jedes Mal wenigstens eine Entdeckung. Eine Literaturzeitschrift gibt es hier jedoch nicht. Die nette, ruhige Frau hinter der Kasse weiß das, und sie weiß auch, was eine Literaturzeitschrift ist.
Die zweite
Ich fahre weiter zur Bahnhofsbuchhandlung. Hier konnte man bis vor einiger Zeit Literaturzeitschriften wie Bella Triste oder Edit einfach so aus dem Regal ziehen. Am Bahnhof hat sich aber noch mehr verändert als bei der ersten Buchhandlung. Der Laden ist auf die Hälfte geschrumpft und verbreitet mit seinen lang gezogenen Regalen und den Snack- und Getränke-Ständen Supermarkt-Charme; zu allem Überfluss sitzt im Obergeschoss Mc Donald’s. Das Anspruchvollste, was ich unter der Rubrik ›Kultur‹ finde, ist – ein Kochbuch. Ich verschwinde, als sich ein Kaufhausdetektiv an meine Fersen heftet (verhalte ich mich so seltsam, wie ich mich fühle?), schnell Richtung Ausgang, das billige Design der von der Decke hängenden Rubrik-Schilder noch vor Augen.
Die dritte
Eben diese Rubrik-Schilder finde ich wieder bei der dritten Buchhandlungsadresse. Die Schilder sind ernüchternd, sehen aus wie mit Word gestaltet. Diese Buchhandlung hieß doch früher anders, Mensch, man kommt gar nicht mehr mit bei all den Veränderungen. Außerdem fingen gleich rechts neben dem Eingang die literarischen Klassiker an, alphabetisch sortiert. Heute stehen an derselben Stelle Bestseller, nicht weit davon findet man Schlüsselanhänger und Postkarten. Aber – es gibt eine Information, die ich unmittelbar ansteuere. Die auffällig blondierte Mitfünfzigerin lässt von ihrer Arbeit am Computer nur ungern ab. Durch randlose Brillengläser fixiert sie mich, und ich erhalte eine hieb- und stichfeste Erklärung, weshalb es geschäftsschädigend sei, Literaturzeitschriften zu verkaufen. Beim Großhändler müsste man da ja mehr als 10 oder 20 Exemplare bestellen, und davon würden dann 1 oder 2 verkauft … Fach-Zeitschriften hätten sie allerdings im 3. Stock ganz viele. »Aber Literatur ist doch auch ein Fach«, wende ich ein. »Ach«, meint sie und schaut von ihrem etwas erhöhten Tresen auf mich herab, »das müssen Sie mir erst einmal BEWEISEN. Und was, bitte sehr, ist überhaupt LITERATUR?« Das Wort hallt eindrucksvoll durch den Laden, in dem es um diese Uhrzeit von Kunden nur so wimmelt. Beschämt, ja, geradezu niedergeschmettert, ziehe ich von dannen.
Die vierte
Buchhandlung 4 – Lesungsplakate schmücken den Eingang, und ich erinnere mich an Berichte von begeisterten Kollegen: Hier finden gut moderierte, atmosphärisch dichte Literaturlesungen statt. Ich beginne mit der Suche im Untergeschoss; da ist so gut wie gar nichts los, und eine Frau erklärt mir, dass es so etwas (wenn überhaupt) nur im Obergeschoss gebe, dass sie aber rein gar nichts vom Obergeschoss wisse. (Nur »Literatuuren«, »Literatuuren«, die gab es mal.) Ich also ins Obergeschoss, schieße zur Kasse, weil mich Monitore beballern. (Mensch, das sind doch keine Monitore, das sind Bücher, 50, 100 von einem Titel, Krimis, Regionalkrimis, nicht etwa Rücken an Rücken, sondern mit dem bunten Titelbild nach vorn, das flimmert nur so vor Augen – wie ein Bild von Andy Warhol.) Vielleicht kann die Frau an der Kasse mich retten, sie hat immerhin ein Schild an der Bluse, ein Schild, das WISSEN verspricht. »Schaun Sie mal da vorn am Ausgang, zwischen den Zeitungen.« Ich gehe zum Ausgang, da ruft sie noch etwas hinter mir her, ich drehe mich um – aber ach, sie hat bloß gehustet; und am Ausgang finde ich Lettre, ok, und zwei Exemplare von »Bleitext« – hinter einer Philosophiezeitschrift versteckt (und das hat man wohl nur dem aggressiven Vertriebspartner zu verdanken).
Die fünfte
Raus, raus aus der Stadt, und in die List (den Bildungsbürgerstadtteil), zur fünften Buchhandlung. Hier ist man auf anspruchsvolle Kinderliteratur spezialisiert, zumindest im Eingangsbereich. Ich trage die Frage nach Literaturzeitschriften vor. Und werde weitergeschickt zu einer netten Dame, die einen riesenhaften Katalog hat, in dem sie auch Zeitschriften nachschlagen kann. Der Katalog hat wohl mehrere tausend Seiten und zerfetzte Ecken und … hier hätte ich nun wirklich das Internet vorgezogen. Aber die Frau ist ausgesprochen freundlich. Sie findet zwei Einträge: »Matrix Biologic« und »Matrix 3000«. Aber keine Matrix 28.
Die sechste
Gern hätte ich mich noch weiter umgeschaut, aber ich möchte noch zur sechsten und letzten Buchhandlung für heute, ein Stück weiter stadtauswärts, ob es die noch gibt? Hier kann man stöbern, der Laden ist klein, aber es gibt nur ausgewählte Titel. Die Buchhändlerin, eine Frau in schwarzen Gewändern, schleicht zwischen den Regalen umher und erschreckt mich von hinten. Ich möchte sie gar nicht nach Matrix fragen, weil ich es doch zu traurig fände, wenn sie nein sagen müsste. Ich brauche auch gar nicht fragen, denn in diesem Moment betritt eine Freundin von mir den Buchladen, die ich flüsternd frage, und sie verneint. Nein, Matrix gibt’s auch hier nicht. Ich berichte kurz von den Erlebnissen. »Mensch, die fünfte Buchhandlung hat doch sogar einen eigenen Verlag.« »Ja, aber auch eine hochinteressante Auffassung davon, was eine Geschichte ist – und als Lyriker darfst du denen schon mal gar nicht kommen. Habe ich mal gemacht, o je.« »Mensch, wir sind doch auch konservativ. Wie wir hier reden.«
Hui
Na, das Gespräch ist eh bald zu Ende, ich also nach Hause, Matrix 28 direkt beim Pop Verlag in Ludwigsburg bestellt, hui, am nächsten Tag schon kommt die buchdicke Ausgabe, deren Lektüre mich tagelang in Atem hält.