Der Müll, die Stadt und der Schrottplatz

Der unendlich geweitete Kunst-Begriff weht dich schon beim Eintritt ins Fride­ri­cianum an. Die Kass­eler documenta XIII überrascht wieder einmal mit einem reichen Diskurs über den Kunstbegriff mit allen sinnlichen und sinnigen Mitteln. Durchzug, denkst du, alle Türen stehen offen, die Haare stehen dir im leeren Foyer zu Berge, links ein leerer Saal, rechts ein leerer Saal, na gut: fast leer, du spürst den Wind und denkst nach: viel Wind um nichts, aber heiße Luft ist es auch nicht. Soll ich die leeren Räume selber füllen mit meinen Denkkunstwerken? Soll ich das Nichts vollenden, zum Werk gestalten? Ja, in die Richtung geht es. Eine Vitrine mit ein paar Dutzend Schmet­ter­lings­larven sagen es laut: Wir sind der Text im weißen Nichts! Alles ist Metamorphose, und was wir für Kunst halten, ist ja nicht Unnatur, sondern war und bleibt und wird in jedem Aggre­gats­zustand zwischen Abstraktion und Gegen­ständ­lichkeit Natur. Kunst entsteht nur im Kopf in sinnlicher Vorstellung, die Welt als Wille und Unwille. Du hörst die Blasmaschinen im Keller nicht, aber du raufst dir im Wind der weiten Kunstwelt deinen Scheitel wieder zurecht, so du einen hast. Durchzug … Du wirst selbst zum Wind und bläst dein Hirn auf und paarst dich mit dem „Brain“ im Erdgeschoss.

Da siehst du die Bildgebungen der grauen Zellen, das Pfingstereignis der Leiterin der dXIII, Carolyn Christov-Bakargiev (CCB). Im Ernst. Du siehst hier – in dem Schnee­wittchen­sarg ihrer Gedanken, in der Windstille hinter Glas – eine Art Vorbereitung auf das Ganze, Stilleben von Morandi in Öl, also richtig alte Kunst, Fotos von Hitlers Badewanne, die Lee Miller im Juli 1945 in der Münchner Wohnung des Führers aufnahm, oder Steine auf dem Fußboden, weiß umgrenzt, Faltspiele, wie wir sie in den Museums­shops kaufen können usw. CCB will zeigen, wie weit, wie offen ihr Kunstbegriff ist. Das ärgert mich zuerst, obwohl kein didak­ti­scher Zeigefinger in meinen Schädel greift. Denn ich frage mich, kann der auf jeder voran­gegan­genen documenta geweitete Kunstbegriff immer noch geweitet werden? Ja, er kann. Denn nun wird der unüber­dehnbare Begriff selbst zu Kunst, er verliert das Begriff­liche und Begreif­bare. Und das gefällt mir auf einmal, Tage später.

Manches hatten wir schon so ähnlich. Die 9-Zylinder-Motoren als Kunstwerke. Das ist Mathe­matik und Physik in schönster Form. Und Kraft. Noch einmal Futu­rismus, neomäßig jetzt. Aber immerhin. Der Schei­ben­wischer an der Wand – wie gesagt, das hatten wir schon, aber es kann nicht oft genug gezeigt werden: Der Kontext bestimmt, was ein Kunstwerk ist, und das Etikett. En passant kommt mir nun in der Orangerie das Fou­cault­sche Pendel des Natur­kundemuseums als Kunstwerk vor. Mein Kopf ist es, der kontex­tuiert und etikettiert. Das geschieht auch mit der toten Fliege, die in der Glasvitrine liegt. Diese Ästhetik des Todes oder wenigstens des Toten – wieder eine subtile Anspielung auf alle Kunst­werke: Rodins „Ehernes Zeitalter“ ist auch tot, ist nur eine Bildgebung, allerdings mit dem Anspruch, punktuell das Arche­typische des Lebens festzuhalten, das ewige Gesetz des Lebens zu finden. Klar, das kann man endlos durch­deklinieren. Die kleine Fliege wird im kubischen Glasrahmen richtig groß.

Ein Schrottplatz, künstlich hergerichtet an den Außengleisen des Hauptbahnhofs, abgegrenzt mit weißem Strich, also Betreten verboten und Bitte nicht berühren. Hatten wir das nicht schon, die Ästhetik des Häss­lichen? Ja, aber noch nicht in dieser Radik­alität, die so leicht und selbst­verständ­lich vor uns ruht. Die macht dich als Kunst­betrachter ganz klein. Aber dann denkst du ein bisschen nach und erlebst deine Wieder­aufer­stehung, wenn du den Schrotthaufen lauthals fragst: Wer ist hier das eigent­liche Kunstwerk, du oder ich? Wir begreifen: Auch als arme Voyeure sind es allein wir selbst, die etwas zur Kunst erklären und das Dahinter und Drumherum. Natürlich habe ich schon schönere Schrott­plätze gesehen, und mystischere. Aber ich muss zugeben, der grasüber­wachsene Müll­berg auf der Karlswiese vor der Orang­erie – der hat was, der hat was, was ich so doch noch nicht wahrnahm: Diese labile Ambivalenz von Schein und Sein. Eine kleine Hügel­landschaft, in deren dünner Erde bunte chinesische Schriftzeichen stecken, das Ganze eingefasst von einem kreisrunden Plastikring – ein Spiel mit dem alten Weltbild von der Erde als Tellerscheibe, eine ver­steckte Satire auf das Reich der Mitte? Da wird Kunst politisch, auch wenn sie spielt. Nein, eigentlich bin ich der Spieler. Die Kunst wirft mir die Bälle ja nur zu. Und: Wenn der Kunstbegriff ausgedehnt wird, weitet sich auch der Natur­begriff. „Ein Kauz könnte ja sagen, die ganze Natur sei nichts als Fäulnis und Schimmel auf dieser Erde …“, schwafelt Thomas Manns Felix Krull und zieht dann das Fazit, dass es diese Käuze, die Künstler sind, „… die Wahr­heit erblickten in Form und Schein und Ober­fläche und sich zu deren Priester machten und auch sehr oft Professor dafür wurden.“ Da ist er ganz nah dran am Wahr­heits­kern der Kunst.

Dann findet sich doch noch die Kunst, die unser altes Herz suchte: Die Kunst, wo alte und neue Kriterien sich ein Stelldichein geben: William Kentridge, einer der Lieblings­künstler von Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, die auch ein Buch über ihn geschrie­ben hat. Kentridge war schon zwei Mal in Kassel dabei. Seine an Lager­halle­nmauern proji­zierten Videos, meist schwarz­weiß, haben es in sich. Die 24 Minuten dauernden Film­sequenzen mit mon­tierten Zeich­nun­gen waren zusammen mit Musik und Tanz eine Art Gesamt­kunst­werk mit starker emotionaler Wirkung, sie zeigen Witz und Humor. Mitten im dunklen Raum steht eine Kreuzung aus Loko­motive und Pumpe, Blasebalg und För­derturm – ein Gerüst mit pen­delnden Holz­stangen, schwach angeleuchtet, leicht ächzend, atmend … Ma­schinenli­tanei. Kentridge nennt das Monstrum „Elefant“. Die Videofilme des 1955 in Johannes­burg geborenen Südafrikaners thematisieren den ver­zweifelten und spielerischen Umgang mit der Zeit (Metronom und Ziffern­blatt); ein anderer Film zeigt den tragi­komischen Kampf eines Mannes mit Stühlen, die er über­steigt, die sich ihm aber immer wieder in den Weg stellen; oder eine Parodie auf koloniale Herr­schafts­verhält­nisse, wo ein junges schwar­zes Diener-Paar sich zwischen gezeichneten Attrappen der Zimmer­wände, Türen, Fenster und Möbel bewegt; zuletzt bewegt sich ein Zug von Schwarzen mit Karren, Möbeln, Musik­instru­menten und Megaphonen an den Wänden entlang um den ganzen Raum, stumme Schatten an der Wand, aber die marsch­ähnliche Musik schreit die Klage heraus, ein Zug von Flücht­lingen zum eigenen Begräbnis. Hier verbinden sich Politik und Poesie. Aber die Hoff­nung, wie sie der ameri­kanische Philosoph Richard Rorty in seinem Buch Kontin­genz, Ironie und Solidarität vor einem Vierteljahrhundert postulierte, die Politik solle sich in eine Poesie der Humanität verwandeln, bleibt utopisch wie Beuys soziale Skulptur. The Refusal of Time, die Verweigerung der Zeit, die unser Leben ausmacht, führt zur Verleugnung des Paradieses auf Erden.

Jede documenta spielt mit den Begriffen und Gegenständen der Kunst, mit ihren Kontexten und Kontex­tuierungen, mit den Augen der Betrachter, und diese spielt so intelligent mit meinen grauen Zellen, dass ich gern mitspiele. Sie ist so gut und so schlecht wie die beiden letzten vorangegangenen. Ich verwerfe dieses und jenes, bis es über Tag und Nacht wieder aufersteht in mir. Ein guter Kunstbegriff ist letztlich auch ein künstlicher Begriff, wie ja alle Kunst künstlich ist, selbstredend, und alle Künstlichkeit naturgemäß nur ein Bild der Natur ist. „Die vollendete Spekulation führt zur Natur zurück.“, schrieb Novalis 1798 in seiner Schrift Allge­meine Bruillon. So soll es sein.

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Weiterführend →

Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.