Der Düsseldorfer Multimedia-Künstler Ferdinand Kriwet erarbeitete formalistische Werke aus den Bereichen Grafik, Film, Literatur, Hörspiel und Kunst am Bau die sich innerhalb der jeweiligen Konventionen und Genregrenzen ihres Mediums bewegten. Kriwet zeigt eine bemerkenswerte Stringenz im Umgang mit Sprache, Form- und Farbgebung. Davon konnte man sich im Frühjahr 2011 während der Retrospektive “KRIWET – Yester’n’Today” in der Kunsthalle Düsseldorf überzeugen.
Der Meister des O-Tons
„Wir existieren, weil wir kommunizieren. Wir leben, indem wir kommunizieren. Zeitliche und räumliche Distanzen überwindend, benutzen wir zur Kommunikation neben der gesprochenen Sprache vornehmlich die Zeichen der Schrift in allen Dimensionen. In Ergänzung der auf nur wenige Zeichen beschränkten normierten Buchstabenschrift, in Ergänzung des Alphabets, bedienen wir uns im Alltag permanent ergänzender, unterstützender schriftunabhängiger Sichtzeichen zur Verständigung. Wir sehen uns an. Wir sehen aneinander vorbei und übersehen einander. Wir schlagen die Augen nieder und reißen sie auf. Wir lachen, schmollen, weinen, werden blaß und rot… Wir verneigen uns voreinander und in die Himmelsrichtungen, in denen wir unsere jeweiligen Götter vermuten.
Wir spucken aus. Wir küssen einander. Wir küssen die heilige Erde, den geweihten Ring, den Fuß, den Altar, das Foto, den Fetisch, die Fahne. Wir stehen aufrecht. Wir stehen stramm. Wir schreiten. Wir tanzen. Wir knien. Wir zittern. Ringe verbinden uns, bis der Tod uns scheidet. Wir zählen mit Punkten, Kugeln, Perlen und Strichen. Wir machen unser Kreuz auf Wahl- und Totoscheine. Wir entwerten Sparbücher, Ausweise, Fahrkarten durch Löcher. Wir sind linientreu. Wir folgen unterbrochenen und ununterbrochenen Linien, Richtungspfeilen und Leitplanken im Verkehr. Wir übertreten Bannmeilen und Grenzen. Wir befolgen rote, gelbe und grüne Lichtsignale. Wir verbrennen Bücher, Puppen und Menschen. Wir entzünden Fackeln, Kerzen und Olympische Feuer. Wir weihen Wasser und sprengen es über Menschen und Waffen. Wir schlagen das Kreuzzeichen und folgen dem Hakenkreuz. Wir kämpfen mit roten, schwarzen, farbigen Fahnen und ergeben uns mit einem weißen Tuch. Wir trinken Christi Blut und essen seinen Leib. Wir errichten Triumphbögen, Pyramiden, Obelisken, Freiheitsstatuen, Kathedralen, Fernsehtürme. Wir frankieren unsere Briefe mit Marken und tauschen Geld in Münzen und Scheinen. Wir signieren Schecks, Briefe, Verträge und hinterlassen Fingerabdrücke in den Karteien. Wir kritzeln Erotika und Sadistika, Telefonnummern und Treffs auf Pissoirwände und Himmel und Hölle auf Schulhöfe. Wir ritzen Namen und Herzen und Pfeile in Baumrinden und Schulbänke. Wir brennen Tieren, Waren und Menschen Besitzzeichen und Kennzeichen ein. Wir stempeln Dokumente und Konsumgüter. Wir schminken und schmücken uns. Wir tragen Federn an den Hüten und Gürtel um die Hüften. Wir geben den Gegenständen, den Farben, den Formen, den Zeiten, den Richtungen, den Gesten und Bewegungen Bedeutung. Wir tragen weiße Kleider als Zeichen der Unschuld zur Hochzeit und schwarze Kleider als Zeichen des Todes zur Trauer. Rot sind der Kommunismus, die Liebe und das Blut. Wir fasten an Fastentagen, gedenken an Gedenktagen, feiern an Feiertagen. Rechts ist gut und links ist böse. Wir steigen auf. Wir steigen ab.“ (aus COM.MIX von Ferdinand Kriwet 1972)
Revisited
1961 erschien Ferdinand Kriwets Erstlingswerk, die Prosadichtung Rotor, der Monolog eines drauflos plappernden jugendlichen Ichs. Im Redefluss angeschwemmte Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an Freunde oder Deutschlandbilder werden von diesem Ich sogleich verarbeitet: zerlegt, gedreht, gewendet und neu kombiniert, als ginge es immerfort um Leben und Tod.
„Erinnerung übt sich ein, nicht um Gedächtnis aufzubauen, sondern um den Verlauf von Rede, ihre eigentümliche haltlose Dauer zu ermöglichen. Eine Erinnerung um der puren Rededimension willen.“ (Notizen beim Lesen, Franz Mon 1961).
Es gilt bei Rotor das Prinzip „durchreden“ – komme, was wolle: „auch ein wortweltmeister schafft dichtung auf ex“, „durchreden“ verhindert hoffentlich „durchdrehen“, schließlich ist „durchstehn“ „alles“. Interpunktion erübrigt sich. Rotor ist stets in Bewegung, auch wenn die Bewegung manchmal nach Stillstand aussieht. Der Sprecher rotiert und mit ihm der Zuhörer.
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DeutschlandRadio Kultur, heute ab 18.30 Rotor, Regie: Ferdinand Kriwet Mit: Max Woithe, Janusz Kocaj, Janus Torp, Marian Funk, Ilja Pletner, Ton: Alexander Brennecke , Produktion: DKultur/WDR 2012 , Spieldauer: 39″09
Im Anschluss: “BeatTheater 2011″ Von zeitblom und wittmann, Hörcollage in 10 Formteilen nach einem Exposé (1964) von Ferdinand Kriwet , Produktion: DKultur 2011. (Spieldauer: 49″14)
Ab dem 29. Juli 2012, 20.00 Uhr wird das Audio von Rotoradio zum Nachhören hier für sieben Tage bereitstehen.