Ablagestelle Südbahnhof
Wir stehen an der Ablagestelle Südbahnhof und warten auf unsere Zeitungen. Es ist mal wieder so eine Nacht, in der man es nicht richtig machen kann: am Vortag wurde uns eine Resthaushaltsverteilung des Kunden Ibo angekündigt. In 50% der Fälle werden an so einem Tag die Zeitungen später angeliefert, kommen sie allerdings pünktlich, so kann man mit ein bisschen Anstrengung seine Tour sogar in der vorgegebenen Zeit schaffen. Die meisten sind daher zu einer mittleren Zeit gekommen, zwischen 4 und halb 5. Bis auf Eva, die sich in einem Anfall von Wahnsinn, (und evtl. unter dem Namen ihres Mannes) 3 Touren aufgehalst hat und immer um viertel nach 3 da sein muss, um überhaupt eine Chance zu haben.
Ich nenne sie Eva, und mit Spitznamen Nachteule. Aber sie heißt nicht Eva, sie ist einfach nur die allererste Frau, die ich beim Zeitungsaustragen kennengelernt habe. Frau? Furie! Klar, dass sie ihre Touren nur mit Hilfe eines Auto bewältigen kann. Und als ich eines morgens mein Rad auf dem Bürgersteig parke, um meine Zeitungen einzuladen, drängt sie mich mit Vollgas zurück auf die Straße. »Können Sie demnächst mal darauf achte, nicht hier zu parken?!« Eva also ist heute nicht nur schon da, sondern bereits auf 180. Da sie kein Geld für einen weiteren Kaffee von der Tanke hat, fährt sie erstmal wieder nachhause.
Schon als ich die Stolze hochfahre, die sich wie ein Flussbett durch die Häusermasse windet, wundere ich mich, dass Barnie mir nicht entgegenkommt, mit seinen ruhigen Zick-Zack-Bahnen, mäandernd, mit einem Stoß Zeitungen unter dem Arm. (Als Stammzusteller braucht er sich nicht zu beeilen, während ich als Springerin in seiner Tour immer ganz schön ins Schwitzen komme.)
Warten
Nun warten wir also zu viert vor den leeren Kaskaden – einem für nichts anderes zu gebrauchenden Häuservorsprung, der mit einem Gitter abgesperrt ist und an dem sich die Passanten tagsüber fragen, warum hier nicht wenigstens gelbe Säcke gelagert werden – : Barnie, Uwe, Ello und ich.
Das blaue Licht der Aral-Tankstelle macht uns zu Gestalten aus einem Fernsehfilm. Eigentlich aber sind wir Zuschauer, nämlich von einer Szene, die sich fünf torkelnde, palavernde, junge Erwachsene leisten, die dort um ein qualmendes Auto herum stehen. Und nochmal eigentlich sieht man das Licht der echten Fernseher, was aus einzelnen Fenstern flackert, in dieser Beleuchtung kaum. Man hört lediglich dramatisch brabbelnde Stimmen durch die gekippten Fenster.
Hier, bei uns auf der Straße, passiert doch aber das Drama. Unsere Zeitungen sind nicht da, niemand bezahlt uns die Überstunden, es wird immer später und auch die jungen Leute machen den Eindruck, als ob ihr Leben vor dieser Nacht geordneter war. Es dauert nicht lange, dann kommt die Polizei und nimmt alle mit. Bis auf das Auto.
Kinder
Jetzt ist wieder gar nichts mehr los und Langeweile ist etwas, was man um diese Uhrzeit gar nicht ertragen kann, jedenfalls nicht, ohne zu schlafen, zu trinken oder zu rauchen… aber das tut keiner von uns; Kaffee ist das einzige, auf das wir angewiesen sind und der kostet unglaubliche 2 Euro im Pappbecher an der Tanke. Uwe holt sich dennoch einen. Er ist von uns allen am besten drauf, weil seine Frau ein Kind erwartet, und er genau weiß, dass das der Moment sein wird, wo er diesen Job erstmal an den Nagel hängen kann, weil er in
Elternzeit geht. Stolz zeigt er uns eine in Holz eingefasste Ultraschallaufnahme. Natürlich erkennt man rein gar nichts, aber gerührt sind wir alle, schauen aus dem Dunklen ins Dunkle und denken an unsere nichtgekriegten und gekriegten Kinder. Ello hat schon erwachsene, meine sind der Grund, warum ich nicht schlafen konnte: ich musste Betten beziehen, weil ihre Windeln ausgelaufen waren, und dann konnte ich nicht mehr einschlafen. (Kümmern wir Eltern uns zu wenig um unsere Kinder? Nachts jedenfalls nicht, was übrigens der Grund ist, warum die Kinder heutzutage nicht trocken werden.) Barnies Kinder sind die Katzen auf seiner Tour. In seiner Jackentasche klappert Katzenfutter in einer Dose.
Langsam könnten die Schergen kommen. Schließlich kann man sich hier nirgends hinsetzen, nur so’n bisschen mit dem Po anlehnen an den schmutzigen Stuck der Altbauten, an den stutzigen Schmuck der Häuser, an den hutzeligen Putz der Gemäuer, an den putzigen Look der Gebäude… Da kommt ein Wagen! Ach – nur Eva!! Die guckt nicht schlecht, dass wir hier immer noch stehen. Schon nach Fünf. Jetzt braucht sie nicht mehr nachhaus. Sie bleibt im Auto sitzen, schaltet das Licht aus.
Schaukeln
Und ich muss wieder an die Frau denken, die ich fast jeden Morgen sehe, die auf dem Spielplatz schaukelt, um 4, um 5, um 6, um 7 ist sie meistens weg. Eine seltsame Erscheinung. Ob sie die ganze Nacht durch schaukelt? Ob sie schaukelt anstatt zu schlafen? Ob sie auf jemanden wartet? Ob sie sich in einen Rausch schaukelt? Beunruhigend. Wenn wir doch endlich anfangen könnten, zu arbeiten. Jetzt werde ich das Gruseln nicht los.
Mann, sehen wir alle fertig aus! Ello hat auch nicht geschlafen, aber immerhin hat sie ein rundes, glattes Gesicht. Sie beginnt in aller Seelenruhe zu erzählen, und ich höre ihr gerne zu. Sie hat so eine natürliche Art zu erzählen, ihre Geschichten leuchten, weil ihre Augen leuchten, was hier im Dunkeln besonders auffällt. Ihre Tochter hat sich ein Brautkleid gekauft, ihre Nachbarn sind verreist und haben ihre pubertierenden Kinder daheim gelassen, und was die alles gesagt haben, und was die alles gemacht haben, und was die alles für Musik gehört haben, und was die alles getrunken haben, und was die alles geraucht haben,…
Nun reicht es selbst dem robusten, polnischstämmigen Barnie (man munkelt, er sei früher mal Lehrer gewesen und irgendwann durchgedreht). Barnie hat ein paar Telefonnummern, die wir anderen nicht haben (geheime Beziehungen zur Chefin), eine davon wählt er jetzt.
Nach einem kurzen Gespräch berichtet er, dass der Fahrer bereits vor anderthalb Stunden losgefahren ist. Die Beunruhigung wächst.
»Seltsam. Der Fahrer müsste längst da sein.«