Über das Verschwinden • Teil 2

Eine Frage der Einstellung

»Na toll. Unser Job wird nie langweilig«, meint Ello, die zu ihrer Aufgabe als Obfrau heute nicht mehr kommen würde. Uwe geht, auch wenn er sich der Absurdität seiner Handlung bewusst ist, über die Tankstelle zur Marienstraße vor und schaut in die Richtung, aus der der Wagen kommen müsste. Wir übrigen schweigen und gestalten im Kopf schonmal unseren Tag neu, als Uwe ruft: »Wir müssen helfen!« Er beginnt die Marienstraße stadteinwärts zu gehen. Wir folgen ihm, glücklich, endlich etwas zu tun zu haben. Jemand kommt gestikulierend die Straße hoch: der Fahrer. Sein Wagen ist liegengeblieben, unten auf der Kreuzung …

Zeitungsstapel

Zeitungsstapel Bismarckbahnhof  · Photo: Christine Kappe

Wir schieben den Lieferwagen bis auf den Bürgersteig vor unsere Kaskaden. Der türkischstämmige Fahrer ist am Ende mit den Nerven. Es ist ihm wohl ein paar mal auf der Tour so gegangen und nun läuft gar nichts mehr. Er tut mir leid, er verdient bestimmt noch schlechter als wir und dreimal so viel Familienmitglieder … Doch wir können sein Schicksal nicht weiter verfolgen, weil wir so schnell wie möglich auf Tour müssen. Wir bilden eine Schlange und laden unseren Käfig voll. Eva ist ausgestiegen, kreidebleich – vor Wut oder vor Angst um ihre anderen Jobs heut? Dann reißt sie Ello fast die Listen aus der Hand und macht sich hemmungslos über die Zeitungen her. Ello sieht das gelassen, schließlich ist sie es, die normalerweise die angelieferten Zeitungen abzählt und nach Touren aufteilt; wenn etwas fehlt, wird sie es demnächst bei Eva fehlen lassen.

Wenn man anderthalb Stunden sinnlos in der Nacht herumgestanden hat, ist es unglaublich schwer, wieder an Tempo zu gewinnen … Die Glieder sind ausgekühlt und steif, Hunger und Durst melden sich …

Ich weiß nicht, ob Barnie petzt, also nehme ich schön brav alle meine »Resthaushalte« – das sind: Exemplare für alle, die nicht schon eine Zeitung abonniert haben – mit, obwohl mein Anhänger bei der ersten Bodenwelle damit eigentlich aus der Halterung fliegen müsste. Verrückt. Verrückt, dass sowas trotzdem geht. Ich habe das unzählige Male erlebt, völlig überladen, mit Zeitungen, von denen die äußeren nur noch mit einer Spitze in der Packtasche klemmen und im Wind flattern, und ich komme tatsächlich an der ersten Zustelladresse an, weil ich schon vor mir sehe, wie ich da ankomme. Das ist alles nur eine Frage der Einstellung. Wirklich ein Phänomen.

Diesmal habe ich allerdings den erstbesten Mülleimer im Sinn, und das ist so’n kleines, oranges Ding neben ’ner Bushalte. Ich fülle ihn und habe damit natürlich noch nicht viel erreicht, aber etwas Erleichterung. Man muss dazu sagen, dass Resthaushalte auf einer Tour mit überwiegend Einfamilienhäusern, unterbrochen von Alten-, Asylbewerber- und Studentenwohnheimen, wenig Sinn machen. In den Wohnheimen kann man natürlich die 199 anderen Briefkästen mit den Prospekten füttern. Aber das ist aufgrund der fortgeschrittenen Zeit heute einfach nicht drin, außerdem muss man die Werbeverweigerer berücksichtigen. Vielleicht würde ich irgendwo in den Flur einen Stapel hinlegen. Mal sehen.

polnisches Hochhaus

Balkone • Photo: Christine Kappe

Mit Christoph in Prag

Eigentlich mag ich diese Tour, weil mich die spezielle Mischung aus friedhofsähnlichen Parks, Plattenbau und spitzohrigem Altbau an Prag erinnert. Das Erstaunliche aber ist, dass ich mich auf jeder Tour, die ich vertrete, wie der Stammzusteller fühle. Hier also bin ich Christoph, der naturverbundene, naive, rotwangige Christoph, der sein Studium geschmissen hat, der durcheinander und fahrig ist, ungeduldig und gesund, eine dieser Gestalten, die, vom Land kommend, stets über die Stadt schimpfen, aber letzten Endes doch bleiben; ich erschrecke nicht über die Kühe, die im Innenhof der Tiermedizinischen Hochschule grasen, mich ekelt nicht der Geruch in den langen Fluren des ehemaligen Schwesternhauses, das von Studenten besetzt, auch Obdachlosen eine Unterkunft bietet, ich scheue mich nicht vor dem letzten unbeleuchteten Kilometer vor der Autobahn, den ich zurücklegen muss, weil ganz, ganz hinten am Tennisplatz noch einer von den eingebildeten, leistungsstarken Sportlern eine Zeitung kriegt, ich denke nicht an Kafka, wenn sich kurz hinterm ausgestorbenen »Finanzamt für Wirtschaftsprüfungsangelegenheiten« plötzlich das Tor der Fußwegreinigungsfirma öffnet und Heerscharen von apfelsinenfarbenen Reinigungsfahrzeugen mit knatterndem Zweitacktermotor wie Ameisen in der Stadt verbreiten, auch fürchte ich mich nicht auf den Balkonen der Haeckelstraße, über die man wie in Russland gehen muss, um zu den Wohnungen zu gelangen, vorbei an vergammelten Gummibäumen, die in jeder Ecke lauern, ich bin so bauernschlau wie Christoph, die Bundesnetzagentur mit allen tagesaktuellen Prospekten zu beliefern (die sind nämlich für die Überprüfung von solchen Sachen zuständig), aber ich bin orientierungsloser als Christoph, weil der alle zwei Monate sein Tourenbuch umschreibt und mich damit vor den Kopf stößt, weil er immer noch einen »besseren« Weg findet und seine Hoffnung auf Erlösung nie stirbt.

Die Prag-Tour ist allerdings auch die dunkelste Tour. Immer wieder fährt man hunderte von Metern durch verlassenes Industriegebiet, zur Bundeswehr, zur Chemiefabrik, zum Autoverleih, zu Schlüterschen Verlagsddruckerei … dem letzten Kunden. Zum Glück, denn sie hat ein breites Spektrum von Zeitungen abonniert, und wenn irgendwo was fehlt, fehlt es hier. Die Pförtner, die sich meistens schon die ganze Nacht gelangweilt haben, stehen rauchend vor der Tür und erwarten mich schon … aber außer ihnen trifft man auf dieser Tour eigentlich niemanden.

Verschwunden im Eintrachtweg

Auch die Menschen, die hier wohnen, verschwinden. Besonders augenfällig im Eintrachtweg, ungerade Seite, wo die Namen so stokelig aus dem Russischen transkribiert sind, dass sie nie wieder ins Kyrillische zurückfinden. Hier ist keiner auf der Straße. Ein einziges Mal bin ich, bei Nummer 9, einer Frau begegnet, die kam neben mir aus der Hecke und hatte nur einen Schuh an. Wie ein Zitat.

Man könnte dieses Phänomen der Uhrzeit zuschreiben, doch wenn ich in denselben Straßen tagsüber Post austrage, sehe ich auch keinen. Und bei einer abendlichen Radtour ebenfalls nicht. Hier ist niemand, weil diese Leute für einen miesen Stundenlohn den ganzen Tag arbeiten müssen oder aber arbeitslos vor der Glotze hängen. Genauer also muss man sagen: AUF DER STRASSE ist niemand, was wohl anders wäre, wenn es einen einzigen Supermarkt gäbe, und dann würden sogar noch Leute aus anderen Stadtteilen kommen.

Wenig Geld macht einen also verschwinden. Arbeit bei Nacht, das Identifizieren mit Leuten, die man vertritt, langes Warten, aber auch: Routine. Ein ganzer Stadtteil verschwindet, wenn man täglich in ihm dieselbe Tour fährt … genauer gesagt: Er wird zur Uhr, zur Zeit selbst. Und er schrumpft, wenn man schneller wird. Nachdem ich 6 Tage lang Christophs Tour gefahren bin, weiß ich, dass ich ungefähr um 20 vor 5 an der großen Kreuzung zwischen Altenheim und Italienischer Botschaft bin. Dann schaffe ich die Tour, dann fühlt sich alles richtig an. Wenn ich auch nur 10 Minuten später dort bin, ist der Geräuschpegel anders, sehe ich die ersten Straßenbahnen und Busse …, laufen weniger Kaninchen vor der Einfahrt von BASF weg – der Stadtteil, den ich sonst zunehmend als Ziffernblatt wahrnehme, stellt sich quer, zerreißt, wie eine billige Kopie, … selten hole ich die Zeit wieder auf, und am Ende (Schlütersche Verlagsdruckerei) ist es dann, als habe ich mich bei einer Matheaufgabe verrechnet, der Fehler hat sich potenziert, und ich lande in einer anderen Welt: Der Pförtner sitzt hinterm Tresen und ist eingenickt, der Parkplatz des Autoverleihs, über den ich sonst düse, ist zugeparkt, und irgendwer hat bestimmt, dass der Tag angefangen hat – sonst bestimme ICH das.

Blick auf den Berta

Handbäcker am Berta • Photo: Christine Kappe

Frühstück!

Letzten Endes verschwindet auch diese Tour und dieser Morgen … Doch was eigentlich nicht verschwinden darf, ist mein Frühstück. Ich muss mir rasch ein Brötchen holen und fahre Richtung Handbäcker am Berta. Sonst bin ich hier schon immer vor der offiziellen Öffnungszeit, denn Frühdienstler bekommen bei ihm die ersten heißen Brötchen mit teigbeschwerten Händen.

Kollege Ebeling stellt soeben die leergetrunkene Kaffeetasse auf den Verkaufstresen. In den frühen Morgenstunden sind alle Menschen irgendwie verwandt. Und die wenigen Worte, die wir wechseln, sind kurz und herb-freundlich. Ich mag das. Es geht ums Wesentliche. Erscheinungen wie die seltsame Frau, die heute immer noch auf dem Spielplatz schaukelt, obwohl es schon nach 7 ist, müssen erstmal außen vorbleiben. Alle haben sie natürlich gesehen … Dinge, die es eigentlich gar nicht gibt, verschwinden nie.