Rätsel
Soviel Anfang war selten, denkt man hoffnungsfroh immer wieder, wenn die neue Saison beginnt. Soviel Anfang ist meist, mahnt dann die Erinnerung, und auch die Hoffnungsträger sind oftmals dieselben. Theater ist für mich deshalb so faszinierend, weil es noch im Scheitern viele Rätsel aufgibt.
Christine Kappe studierte in Hannover Geschichte und Sprachwissenschaft, danach in Leipzig am deutschen Literaturinstitut (was man ihrem Schreiben im Gegensatz zu anderen dort verbildeten Autoren nicht anmerkt). Sie schreibt Gedichte, Essays und Theaterstücke, bei denen sie dem Prinzip der autonomen Stimmen folgt. Dabei kommt es oft zu leicht abwegigen Fragestellungen:
Wie lebt es sich auf einem Schachbrett? Sind künstliche Menschen glücklicher? Kann man mit einem Kinderwagen in die Stadt fahren? Und schließlich: Wie entsorgt man ein totes Kaninchen?
Auf eigene Faust
Denk ich an Hannover in der Nacht, kommt mir als erstes Hangover in den Sinn. Und damit sind wir sogleich beim bedeutendsten Schriftsteller der niedersächsischen Landeshauptstadt – und was für einer: Kurt Schwitters. Christine Kappe scheint mir eine Verwandte im Geiste zu sein, auch wenn nach eigener Aussage, in den ›hermetischen Welten‹ meistens der Regisseur fehlt. Im Mittelpunkt steht bei Kappe der Mensch. Und damit der Schauspieler. Es gibt eine ganze Riege von Schauspielern, die sich in dem offenen Rahmen, den ihnen einige Regietheaterregisseure bieten, zu Künstlern von großer Eigenständigkeit entwickelt haben. Sie sind nicht nur große Schauspielkünstler, davon gibt es im deutschen Theater weit mehr, als man annimmt. Kappes Protagonisten müssen sich auf eigene Faust durch die Kuriosa des Lebens schlagen. Dabei kommt es zu allerlei überraschenden Wendungen. Wendungen, die oftmals in gänzlich unerwartete Richtungen führen und den Zuhörer augenzwinkernd und nachhaltig wortreich auf die Fährten jenseits der gewohnten und festgelegten Regie-Anweisungen des Lebens locken.
Kern des Realismus
Das Theater ist für Kappe nicht der einzige Ort, das Leben zu überleben, dies zeigen die Texte auf ihrer Website oder die Essays bei KUNO. Es braucht keine Rückkehr zur großen Erzählung, ihre Texte leben nicht von Homestorys oder dem Hohelied der Theorie. Die ungebrochene Aktualität der griechischen Tragödie ist gleichzeitig ein Klischee und ein Faktum. Zweieinhalbtausend Jahre trennen uns von Euripides, der dem Mythos eine bleibende Form gab und dessen Medea bis heute, in Adaptationen oder im Original, zu den meistgespielten Stücken der klassischen Antike gehört. Angesichts der Integrationsprobleme in unserer globalisierten Zeit wirken Medea, die Kolchierin, und Jason, der Grieche, wie traurige Modellfälle: Die kulturelle Kluft zwischen Kolchis und Korinth entspricht derjenigen zwischen Dritter und Erster Welt. Doch aufgepaßt. Mythische Figuren lassen sich nicht ungestraft vereinnahmen, auch wenn, wie bei Euripides, ihre Psychologie für uns Spätmoderne nachvollziehbar ist. Bei Kappe lesen wir, wie der Einzelne leidet, auch wenn das Subjekt nur konstruiert und ohne Kern sein soll. Im Schmerz spürt man sich, wenn man es nicht schafft, sich wegzuträumen und selbst zu belügen. Der Kern des Realismus ist die Tragödie des gewöhnlichen Lebens.
Christine Kappe,
Du tropfes Tier,
Ich——-liebe——-Dir!