Mit dem gegenwärtigen Jahr 2012 und dem kommenden 2013 feiert der Kulturbetrieb den Dichter, Revolutionär und Wissenschaftler Georg Büchner, dessen Todestag sich am 19. Februar zum 175. Mal gejährt hat, während im nächsten Jahr am 17. Oktober sein 200. Geburtstag ansteht. Sowohl auf der Bühne als auch im Deutschunterricht an den Gymnasien ist Büchner durchgehend präsent. Wer allerdings in den Buchhandlungen nach einem Büchertisch nach aktuellen Biografien bei den Publikumsverlagen Ausschau hält, sucht bislang vergeblich.
Das könnte einen Grund haben. Auf dem Schlachtfeld Büchner-Forschung und herrscht mittlerweile zwar Waffenstillstand, aber das Gelände ist sozusagen ein Trümmerfeld, die wissenschaftliche Wahrheit ist auf der Strecke geblieben. Die beiden großen Kontrahenten, identisch mit den Herausgebern der konkurrierenden Gesamtausgaben des Deutschen Klassiker Verlages bzw. der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Henri Poschmann und Burghard Dedner und deren Kollegen haben ihr editorisches und interpretatorisches Pulver verschossen. An den Universitäten wird seitens der nachfolgenden Professorengeneration – mehr oder weniger dogmatisch – der Status quo abgeprüft.
Statt Werk und Leben Georg Büchners kritisch zu hinterfragen und lebendig werden zu lassen, werden allenthalben die historischen politisch-sozialen Daten und Zusammenhänge bis zum letzten statistischen Tropfen ausgequetscht. Wer soll daraus eine Biografie zustande bringen? Freilich: dass der Deutschdidaktik hier nichts Neues einfällt, braucht nicht zu verwundern. Aber die Bühnen? Indes, man sucht in der falschen Richtung. Man liest Büchner durch die Brille des „Sozialisten“ bzw. Sozialrevolutionärs, die bereits die Familie Büchner dem (spärlichen) zeitgenössischen Publikum aufgesetzt hatte. Aus gutem Grund.
Womit Georg Büchners literarisches Werk schockierte, war nicht sein politischer Radikalismus. Er war zu unanständig. Die Frage: warum? wird immer noch nicht wirklich gestellt. Hier wird es nämlich brisant. Sexueller Missbrauch, Inzest usw. waren zwar in der Literatur zur Büchners Zeit keineswegs ein tabuisiertes Thema, aber dieser obszöne Zynismus in Verbindung mit einer schier unfassbaren Aggressivität waren zeitgenössisch so einmalig, dass sie die Moderne auf der Bühne einläuteten und für uns immer noch Vorbild sind. So stellt sich Büchner, trotz Jubiläum (1813 wurde der „Woyzeck“ uraufgeführt) und breiter Verankerung im Kulturbetrieb, als sowohl unterkomplex interpretiert wie auch durch und durch dunkel und komplex-geheimnisvoll dar – eine stabile Gemengelage, die noch durch die Tatsache gestützt wird, dass man die Handschriftenentwürfe des Woyzeck-Fragments im Hinblick auf den jeweils eigenen Deutungsansatz zurechttrimmt.
Der Verfasser kann sich nicht mehr wehren. Auf der Basis dieser Forschungslage entstehen aber auch keine interessanten Biografien. Um zu erzählen, dass Georg Büchner mit dem Hessischen Landboten weniger eine Revolution lostreten wollte (dazu war er zu sehr Realist) als vielmehr die „freiwillige Verbannung“ an den Ort provozieren wollte, an dem seine Geliebte wohnte und er sich wohlfühlte, nämlich Straßburg, müsste man gegen den Strom schwimmen und bräuchte man außer dem Material der (durch die Familie bzw. den Vater zensierten) Briefe Büchners, die das mit unmissverständlicher Offenheit darlegen, auch weitere Quellen, die nur sehr spärlich fließen, nicht nur, weil niemand danach sucht. Manche sind in der Tat im Internet problemlos zugänglich, wie beispielsweise die Erinnerungen Alexander Büchners, des Jüngsten der Büchner-Kinder. Vieles aber ist vernichtet, bei einem Feuer im Hause Büchner verbrannt. Die Vermutung, dass dieses Feuer damals nicht unbedingt ungelegen kam, darf riskiert werden.
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Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Entschlüsselungen, von Christian Milz, Passagen Verlag, Wien 2012.
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