Heidrun Grote ist es leid, nur als Gesichtsverleiherin gefragt zu sein. Als darstellende Künstlerin liebt sie die Literatur und leiht ihre Stimme gern einer Rolle, aber genauso gern einem Dichter. Daher ist Grote das Gehör zu schenken. Diese Rezitatorin ist eine ironische Realistin, sie hat eine Stimme, die alle Nuancen der Welt– und Ich–Erfahrung aufnimmt und in Sprachklang umsetzt. Sie bringt die Ausdrucksebenen von Sprache und Gesang so amüsant wie gekonnt zum Schwingen. Grote trägt Literatur nicht einfach vor, sie gestaltet und verwirklicht sie.
Roland Barthes hat geschrieben, daß es keine menschliche Stimme gibt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder eben des Abscheus. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht, entweder wir ertragen sie oder wir reagieren ablehnend. Was bei ihr fasziniert, ist etwas Konkretes: Wörter, Wortgruppen, bestimmte Zusammenstellungen, in bestimmter Perspektive ausgewählte Sprachkombinationen. Es gibt keine Stimme, zu der wir uns neutral verhalten können: Entweder wir lieben sie oder nicht. Grote hat wie keine Rezitatorin sonst begriffen, daß Literatur Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Es entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert’s und gurgelt es. Manchmal versteht man nicht den Sinn, aber die Gedichte sind durch den Sprachgestus und –duktus immer evident. Unangestrengt schafft sie gesprochene Sprachkunstwerke. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Ihre Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn sie leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann umso schöner wiederzukommen.
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Ein Hörbeispiel ihrer Stimmkunst findet sich unter MetaPhon.